Sittenlehre
Klasse zu gehen. Für den Fall, daß ein Schüler ein äußerst dringendes, tatsächlich nicht zu unterdrückendes Bedürfnis anführt oder eine Schülerin sich unausgesprochen auf jene weibliche Besonderheit beruft, die stets mit Diskretion zu behandeln ist, gibt es eine ganz einfache Lösung: Die Schüler dürfen die Toilette aufsuchen, müssen zuvor jedoch das Arbeitsblatt abgeben – wie weit auch immer sie bis dahin mit den Aufgaben gekommen sind –, und damit ist für sie die schriftliche Prüfung beendet. Sind sie beispielsweise bis zur Hälfte vorgedrungen, haben also zwei von vier Fragen beantwortet oder zwei von vier Rechenaufgaben gelöst, und das fehlerfrei, bekommen sie die Note fünf. Als bestanden gilt eine Arbeit ab der Note sieben. Die Lehrer erzählen immer wieder begeistert – untereinander oder vor den Aufsehern –, wie schnell den Schülern desColegio die Lust vergeht, die Toilette aufzusuchen, wenn man ihnen die Anwendung dieser Regel vorschlägt.
»Na, sehen Sie – so dringend war es also doch nicht.«
Es gibt allerdings Fächer, die aus irgendeinem Grund weniger wichtig genommen werden, auch wenn man sich hier bei Nichtbestehen im Dezember oder März erneut einer Prüfung unterziehen muß und Gefahr läuft, seinen Status eines Schülers des Colegio zu verlieren (die Möglichkeit, ein Schuljahr zu wiederholen, ist im Colegio nicht vorgesehen: Wer durchfällt, muß an eine andere, eine gewöhnliche Schule wechseln, und durch dieses Ausgeschlossenwerden haftet ihm für immer das Stigma des Gescheiterten an). Zu diesen Fächern gehören etwa Kunst oder Musik, manchmal auch Spanisch (allerdings nicht Spanische Grammatik, sehr wohl aber Spanische Literatur). Die Stunden, die man damit zubringt, Malpapier vollzuklecksen, sich berühmte Arien anzuhören oder volkstümliche Verse aufzusagen, werden nicht mit dem gleichen Ernst empfunden wie Physik-, Mathematik- oder Geschichtsstunden (oder Spanischstunden, in denen es um Grammatik geht, um adverbiale Nebensätze oder indirekte Rede). Entsprechend größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, daß während der Stunden, in denen man sich etwa mit dem Begriff der Perspektive oder der Zusammensetzung des philharmonischen im Unterschied zum symphonischen Orchester beschäftigt, daß in dieser Zeit also ein Schüler darum bittet, die Klasse verlassen und auf die Toilette gehen zu dürfen – und daß der Lehrer dies dann auch erlaubt. María Teresa ist sich dessen nur zu bewußt. Sie weiß Bescheid und rechnet damit: Wenn schriftliche Prüfungen abgehalten werden, ist davon auszugehen, daß kein Schüler in der Toilette erscheint, währendsie dort auf Wache steht; wenn dagegen eine Obertertia-Klasse – das heißt eine der Klassen aus dem zweiten Stock – Kunst- oder Musikunterricht hat, ist es wahrscheinlich, daß die Häufigkeit der Toilettenbesuche zunimmt.
Für María Teresa ist es dabei nicht gleichgültig, ob tatsächlich die zehnte Obertertia gerade Kunst- oder Musikunterricht hat, also die Klasse, für die sie zuständig ist. Im Gegenteil, daran muß sie jedesmal denken, wenn es wieder soweit ist. Denn der Preis für die Geheimhaltung ihrer Anwesenheit auf der Knabentoilette besteht darin, daß der Aufenthalt der Schüler dort ihr zwar einerseits einige sehr intime Dinge enthüllt, andererseits bleibt ihr die genaue Identität der betreffenden Schüler jedesmal verborgen. Erst wenn endlich der Fall eintritt, der, wie María Teresa weiß, irgendwann eintreten muß – daß nämlich ein Schüler sich in eine der Kabinen begibt und dort raucht –, wird es ihr möglich sein, ihre Anonymität preiszugeben und damit gleichzeitig ihre Anwesenheit vor Ort wie auch ihre langdauernde Spionagetätigkeit zu offenbaren. Vorher kann sie dies nicht, und bis jetzt war diese Vorraussetzung noch nicht erfüllt. Die Schüler kommen herein, sie hört sie, wird Zeugin ihrer überaus privaten Verrichtungen, spürt, wie sich ihr Gesichtsausdruck entspannt, kann nachvollziehen, auf welche Weise sie sich berühren. Deshalb weiß sie aber trotzdem nicht, um wen genau es sich jeweils handelt. Wenn die zehnte Obertertia Musik oder Kunst hat – oder Spanisch, und Herr Ilundain beschließt, die Unterrichtsstunde für eine Stegreifaufführung von Szenen aus La Celestina zu nutzen –, weiß María Teresa, während sie schweigend in ihrer Kabine steht und wartet, daß die Schüler, die jetzt auf dieToilette kommen werden, höchstwahrscheinlich dieser Klasse angehören, was
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