Sittenlehre
bedeutet, daß sie sie kennt, besser als die anderen, und ihnen auch Namen zuordnen kann. Sie weiß nicht, mit wem genau sie es zu tun hat; dafür kann sie sicher sein, daß es einer der Schüler ist, denen sie täglich dabei zusieht, wie sie antreten, sich setzen, sich hinunterbeugen, um ihre Sachen zu verstauen, sich beim Aufstehen die Jacke zuknöpfen. Sie weiß, es kann Barrella sein oder Capelán, oder Iturriaga, oder Valenzuela, sie weiß, es kann Baragli sein oder Valentinis, oder Kaplan, oder Rubio. Oder noch ein anderer Junge aus der Klasse. Und, obwohl sie sich das nur ein wenig halbherzig eingesteht, das ist ihr auch lieber so. So ist es: Es ist ihr lieber so. Vor sich selbst begründet sie das damit, daß es, soweit sie weiß, in keiner anderen Obertertia, die nachmittags Unterricht hat, weder in der achten noch in der sechsten, weder in der neunten noch in der siebten oder elften, Schüler gibt, die heimlich auf der Toilette des Colegio rauchen. Dagegen weiß sie, daß es in der zehnten Obertertia sehr wohl solche Schüler gibt, oder einen wenigstens, Baragli heißt er, der macht das oder hat es gemacht. Angespannt, ja geradezu sehnsüchtig erwartet sie deshalb den Moment, in dem die zehnte Obertertia in diesen Fächern unterrichtet wird, und von um so größerer Vorfreude ist ihr schweigendes Lauern auf der Toilette erfüllt.
Am Freitag zum Beispiel hat die zehnte Obertertia in der dritten und vierten Unterrichtsstunde Kunst (eine Pause gibt es dazwischen nicht, man nennt das auch einen Unterrichtsblock). Schon seit dem frühen Morgen wartet Teresa auf diese Stunden, während sie noch zu Hause ist, während sie das Frühstück abdeckt oder den Tisch für das Mittagessen vorbereitet, indes ihre Mutter kocht unddabei unaufhörlich Flugzeuge zählt. Sie wartet auf diese Stunden, um in die Knabentoilette zu gehen, sich in einer der Kabinen unsichtbar zu machen, einen Schüler hereinkommen zu hören und schließlich bei seinen Verrichtungen zu begleiten. Sie freut sich sehr darauf. Und wenn es endlich soweit ist, genießt sie es, ohne sich daran zu stören, daß, woran es nichts zu rütteln gibt, immer noch keiner der Schüler, die auf der Toilette erschienen sind, geraucht und damit ihrer geduldigen Verfolgungsjagd ein glückliches Ende bereitet hat.
Aus dem gleichen Grund ist sie irritiert und verärgert, als die zehnte Obertertia einmal Kunstunterricht hat, sie sich aber nicht wie gewohnt auf der Toilette verstecken kann. Sie war ganz darauf eingestellt, erwartete den Augenblick voller Ungeduld. Doch just in der vorausgehenden Pause, als nicht mehr viel fehlt und ihre Vorfreude um so größer ist, ruft Frau Perotti, die in der zehnten Obertertia Kunst unterrichtet, María Teresa zu sich. Sie erklärt ihr, daß sie sich an diesem Tag mit Kunsttheorie beschäftigen werden, das heißt, sie werden nicht in den Werksaal hinaufgehen; allerdings hat Frau Perotti vor, zur Begleitung ihrer Ausführungen einige Lehrdias zu zeigen, und dafür braucht sie María Teresas Hilfe, es muß nämlich jemand den Projektor bedienen. Sie, die Lehrerin, kann das nicht selbst übernehmen, denn sie muß sich mit dem Zeigestab neben die Leinwand stellen und von dort aus auf die Stellen deuten, denen es bei der Betrachtung der Werke besondere Aufmerksamkeit zu schenken gilt. Sie kann aber auch keinen der Schüler damit beauftragen, denn wer auch immer es auf sich nähme, dafür zu sorgen, daß ein Dia nach dem anderen in den Projektor geschoben wird, könnte sich unweigerlich nicht im gleichenMaß wie die anderen in die ästhetische Bewertung der an die Wand geworfenen Werke vertiefen. Folglich bittet sie sie, María Teresa, die Aufseherin dieser Klasse, während des Unterrichts im Klassenzimmer zu bleiben und ihr bei der Vorführung der Dias zu helfen.
María Teresa erklärt ohne zu zögern ihr Einverständnis, etwas anderes bleibt ihr ohnehin nicht übrig. In einem anderen Moment hätte sie gegen diese Bitte auch nicht das geringste einzuwenden gehabt. Die voraussetzungslose Bereitschaft zur Mitarbeit gehört zu den Pflichten sämtlicher Aufseher. Und es ist auch nicht so, daß sie diesen Auftrag jetzt gerne zurückweisen würde oder ihn am liebsten von Anfang an abgelehnt hätte – aber zu wissen, und zwar ganz genau, daß gleich die beiden Kunststunden beginnen werden und die Schüler der zehnten Obertertia, so wie immer, wenn ein als weniger wichtig eingestuftes Fach unterrichtet wird, die Klasse verlassen und auf die
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