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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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Toilette gehen werden, wo sie, die Aufseherin María Teresa, nicht wird sein können, ruft eine so große Verärgerung in ihr hervor, daß es ihr Mühe bereitet, sich diese nicht anmerken zu lassen.
    Das könnte ausreichen, um ihr den ganzen Tag zu verderben. Es gibt in der Tat Dinge, die einem den Tag komplett vermiesen können, obwohl sie, aufs Ganze gesehen, nur einen kleinen Teil davon in Anspruch nehmen. Und so sagt sich María Teresa auch voller Verbitterung, daß dieser Freitag restlos verloren ist. Zu ihrem Glück – und gewissermaßen als Entschädigung für den Ärger, der sich dadurch geradezu in Luft auflöst – ist Frau Perottis Bitte um Mitarbeit nicht das einzige, was in der ersten Pause geschieht. Es kommt vielmehr Herr Biasutto, der Oberaufseher, auf María Teresa zu und führt sie zu einer Eckeim Gang. Dabei legt er seine schwere Hand auf ihren folgsamen Arm. Herrn Biasuttos schmaler Schnurrbart verzieht sich unter einem gezwungenen Lächeln. Herr Biasutto sagt zu María Teresa, ihr Gespräch neulich habe er wirklich sehr interessant gefunden. María Teresa sagt sich, ihr sei es genauso ergangen. Sie kommt nicht dazu, dies auch zu Herrn Biasutto zu sagen, denn der fügt hastig hinzu, er wolle dieses Gespräch gerne wieder aufgreifen und ohne Zeitdruck fortsetzen. María Teresa wird rot, nickt aber. Herr Biasutto unterstreicht seine Worte mit dem Vorschlag, sie könnten doch einmal zusammen einen Kaffe trinken gehen, nach der Schule, in einer Bar in der Nähe, irgendwo, wo es gemütlich ist. María Teresa wird noch röter, spürt sogar ein leichtes Brennen auf den Wangen und ist schließlich so verwirrt, daß sie es nicht einmal schafft, ja zu sagen. Trotzdem, auch so ist klar, daß sie die Einladung annimmt, Herr Biasutto faßt es jedenfalls so auf.

Juvenilia
    Cándido López war im Paraguay-Krieg ein Soldat des argentinischen Heeres. Dieser Krieg, der auch unter dem Namen Dreibund-Krieg bekannt ist, dauerte insgesamt fünf Jahre: Er begann im Jahr 1865 und endete im Jahr 1870. Drei Länder (Argentinien, Uruguay und Brasilien) – daher der Name – taten sich in kriegerischer Absicht zusammen, um ein viertes Land zu unterwerfen (Paraguay). Nicht wenige sehen mutmaßliche Geheiminteressen Großbritanniens als den wesentlichen Faktor, der zum Ausbruch dieses Krieges führte. Im Colegio betrachtete man den Paraguay-Krieg jedoch schon immer aus der Sicht des Historikers, auch aufgrund der Tatsache, daß er von Don Bartolomé Mitre – von General Mitre, wie man hier sagen muß – begonnen und während der ersten drei Jahre unter dessen Führung durchgefochten wurde. Bartolomé Mitre, der Gründer des Colegio, täuschte sich zu Beginn zwar ein wenig hinsichtlich der voraussichtlichen Dauer dieses Feldzuges, in jedem Fall jedoch wies er den Waffen des Vaterlandes in jenen fernen Regionen – mit so klangvollen Namen wie Curupaití, Tuyutí, Tacuarí – den Weg. Es stimmt freilich, daß Mitre vorausgesagt hatte, in bloß drei Monaten werde er in Asunción einmarschieren, während er schließlich drei Jahre später seine Präsidentschaft beendete, ohne daß ihm dieses gelungen war; die Ungenauigkeit der Vorhersage nimmt dem Namen dieses Mannes jedoch nichts von seinem Glanz – diesesMannes, der die Biographien der zwei größten Heroen der Argentinität verfaßt hat, der die älteste und bis heute angesehenste Tageszeitung unseres Landes begründete, der die wichtigste Schule des Landes begründete, mit großem Geschick Dantes Göttliche Komödie übersetzte und für allezeit die politische Einheit unseres nationalen Territoriums herbeiführte. Recht besehen, wurde auch der Paraguay-Krieg letztendlich gewonnen, und dieser Sieg darf mit dem gleichen Recht den Verdiensten des Generals Mitre hinzugerechnet werden, wie er zum Kriegsruhm der argentinischen Nation beiträgt, deren stolze Fahne, worauf hier hingewiesen sei, in den damaligen Kämpfen stets unbesiegt geblieben ist.
    María Teresa hört die Ausführungen der Lehrerin, während sie den Diaprojektor vorbereitet. Aus dem Inneren des Gerätes dringt ein gelbes Licht, das dem in den Wagen der U-Bahn-Linie A ziemlich ähnlich ist – ein Licht, das aus einer anderen Zeit zu kommen scheint. Auch warme Luft, als atmete jemand aus, dringt aus dem Gerät. María Teresa setzt die Dias in den Halter ein. Anschließend kontrolliert sie, ob die vorgesehene Reihenfolge eingehalten ist, und auch, ob nicht eines verkehrt herum im Halter sitzt – nicht, daß

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