Sittenlehre
Unterwäsche in dieser Weise gespürt, nie hat sie sie so vor Augen gehabt. All das macht sie offenbar derart nervös, daß der Urin nicht fließen will, auch wenn der drängende Wunsch, sich zu erleichtern, um nichts nachgelassen hat. Mit dem Trick, ein paarmal kräftig zu schnauben, der einem hilft, sich zu entspannen – ihr Bruder hat ihn ihr beigebracht, als sie Kinder waren –, versucht sie es gar nicht erst, denn der oberste Grundsatz ihrer Aufenthalte auf der Knabentoilette lautet: Immer mucksmäuschenstill sein. Alles was sie tun kann, ist warten.
Schließlich setzt sich der Urin in Bewegung; wie Tautropfen, die stundenlang an einem Blatt gehangen haben, fällt er hinab – gewissermaßen durch sein Eigengewicht. María Teresa verspürt enorme Erleichterung. Es ist angenehm, sehr angenehm, was sie da macht – offenbar war ihr Bedürfnis, sich zu erleichtern, wirklich groß. Angezogen zu sein, aber ohne Unterwäsche, mit Rock, aber ohne Schlüpfer, dieses Gefühl ist etwas Neues. Sie erlebt es alsdas, was es ist: eine andere Art von Nacktheit; in gewisser Hinsicht intensiver als die einzige Art, nackt zu sein, die sie kennt: wenn sie zu Hause duscht. Sie hebt die Falten ihres Schottenrocks noch ein Stück höher und streckt den Kopf vor – durchaus ein wenig von sich selbst überrascht –, um besser sehen zu können. Das hat sie noch nie gemacht, und sie hätte auch nie gedacht, daß sie imstande dazu wäre: Sie sieht zu, wie ihr eigener Urin hervorströmt. Ein trüber gelber Strahl, der, das ist ihr klar, aus ihrem tiefsten Inneren dringt. Und all das macht sie auf der Knabentoilette – sagt sie sich bei diesem Anblick immer wieder. Sie sorgt dafür, daß der Strahl nicht mitten in das schwarze Loch unter ihr fällt, durch das laute Geräusch liefe sie Gefahr, auf sich aufmerksam zu machen. Sie dreht ihn ein wenig zur Seite – indem sie sich selbst zur Seite dreht –, damit er auf den abgerundeten Teil der weißen Keramik trifft, dort macht er weniger Lärm, ist kaum wahrzunehmen. Als sie fertig ist, verharrt sie noch eine Weile in dieser Stellung: vorgebeugt, in einer Hand den Schlüpfer. Dann trocknet sie sich mit einem Stück Papier, das sie für solche Zwecke immer dabei hat, unten ab, zieht sich wieder vollständig an, sieht auf die Uhr und stellt fest, daß sie die Toilette verlassen muß, daß sie hinausgehen muß, was sie dann auch macht. Draußen empfängt sie ein leerer Gang, und der Kiosk, um den sich während der Pause die Schüler drängen, liegt einsam und verschlossen da.
Beim Hinausgehen fühlt sie sich glücklich. Weshalb, versteht sie selbst nicht so recht. Schließlich hat sie keinen heimlichen Raucher auf frischer Tat ertappen können, was doch das eigentliche Ziel der ganzen Unternehmung ist. Noch nicht – aber trotzdem ist sie glücklich.Sie gesteht sich die folgende Erklärung hierfür zu: Früher oder später wird es ihr gelingen. Im Augenblick ist sie jedenfalls glücklich. Und so bleibt es auch während der folgenden Tage, obwohl um sie herum große Besorgnis vorherrscht. Zufrieden kommt sie morgens in der Schule an, im Wissen, daß ein langer Arbeitstag als Aufseherin vor ihr liegt, und ebenso zufrieden geht sie abends nach Hause, im Wissen, daß es am nächsten Tag nicht anders sein wird. Nachts schläft sie nicht richtig tief und fest ein, das stimmt, und nicht selten schreckt sie den Tränen nah aus einem Alptraum hoch, an dessen genaueren Inhalt sie sich aber nie erinnern kann. Trotzdem steigt sie am Morgen zufrieden aus dem Bett, selbst wenn sie sich müde fühlt, noch die Folgen des unangenehmen Traums spürt; an Lust, in die Schule aufzubrechen, sobald es soweit ist, mangelt es ihr nicht.
Alles im Leben ist eine Frage der Gewöhnung, hat ihr Vater immer gesagt. Im Lauf der Zeit hat sie sich so sehr daran gewöhnt, sich in der Knabentoilette zu verstecken und auf Horchposten zu gehen, daß sie nun auch jedesmal dort Wasser läßt. Sie wartet nicht mehr, bis der Drang übermächtig wird, sie macht es einfach, und sie macht es gern. Manchmal verspürt sie nicht einmal das Bedürfnis, bestenfalls den leisen Kitzel, der sie überkommt, sobald einer der Schüler die Toilette betritt; im strengen Sinne das Bedürfnis, Wasser zu lassen, verspürt sie jedoch nicht. Zudem zieht sie sich in der Kabine jedesmal den Schlüpfer aus, als hätte sie es eilig, dabei ist das nur selten der Fall. Oft bringt sie nicht mehr als ein paar wenige Tropfen hervor, so als käme sie bloß
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