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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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fährt sich mit einer Hand (der linken) durch das pomadesteife Haar. Heute wirkt er noch kleiner, noch gedrungener, noch schwieriger von der Stelle zu bewegen. Warum erdiese seltsame Pause einlegt, bleibt unerklärlich. Schließlich dreht er sich um, legt den Riegel zur Seite, geht aus der Kabine. Einen Moment lang könnte man glauben, gleich werde er sich im Spiegel ansehen, nicht absichtlich, weil er sehen wollte, wie er aussieht, sondern einfach aufgrund der Tatsache, daß er am Spiegel vorbeigeht; zuletzt macht er es aber nicht.
    Zusammen mit ihr verläßt er die Toilette. Auf dem Gang ist niemand. Sie gehen ein Stück nebeneinanderher, dann bleibt Herr Biasutto stehen. María Teresa auch.
    »Am Montag will ich Sie wieder hier sehen, verstanden?«
    María Teresa sieht ihn an.
    »Genau hier, auf der Toilette, verstanden? Auf der Suche nach den Jungen, die meinen, sie können sich über die Regeln hinwegsetzen.«
    Herr Biasutto geht weiter, daß sie jetzt nicht mehr neben ihm läuft, ist ihm egal. Aber nach ein paar Schritten bleibt er erneut stehen und sieht sie an.
    »Sie haben mich doch verstanden, oder?«
    María Teresa hat noch nicht geantwortet.
    »Sie haben mich verstanden, oder? Das haben Sie doch verstanden?«
    »Ja, Herr Biasutto.«
    »Sicher?«
    »Ja, Herr Biasutto.«
    Herr Biasutto nickt.
    »Also dann bis Montag.«
    »Bis Montag.«
    Sie kommt ins Aufseherzimmer, zu ihren Kollegen, und kann es nicht fassen, daß das Leben einfach so weitergeht. Aber genau so ist es, keiner merkt etwas, alles geht seinengewohnten Gang. Der Rest der Welt, die Welt der anderen, ändert sich nicht durch das, was geschehen ist. Diese Welt zerfällt nicht, löst sich nicht auf, ändert ihren Lauf nicht. Keine wie auch immer geartete Strahlung, sei sie auch unsichtbar und unbekannter Herkunft, verändert diese Welt oder stürzt sie um. Daß alles so verläßlich und unerschütterlich weitergeht, erstaunt sie. Sie wundert sich, daß der Wirklichkeit der anderen auch nicht die leiseste und noch so unausgesprochene Erschütterung anzumerken ist. Selbst wenn keiner etwas mitbekommen hat, wie auch.
    Das gleiche Gefühl hat sie, noch stärker, als bald darauf der Arbeitstag zu Ende ist und sie vor das Colegio tritt. Daß die gewöhnlichsten Dinge weiterhin einfach so da sind, als wäre nichts gewesen, löst geradezu einen Aufruhr in ihr aus. Der 29er Bus kommt vorbei, er ist blau und gelb und fährt Richtung La Boca. Der Zeitungskiosk an der Ecke ist geschlossen, er hat nur vormittags auf. Der Blumenhändler steht im Licht einer kleinen Lampe, die an seinem Stand hängt, und hört Radio. Die Leute, die unterwegs sind, sehen sie nicht an, sie können offensichtlich keinen hinreichenden Grund dafür entdecken, den Blick auf sie zu richten.
    María Teresa möchte so schnell wie möglich nach Hause. An solchen Tagen ist das immer besonders mühsam: Die Warteschlange vor dem U-Bahn-Schalter ist länger als sonst, die U-Bahn fährt verspätet ein und wieder los, inmitten der Schwärze zwischen zwei Stationen kommt es zu Pannen und unliebsamen Zwischenhalten. Den Eindruck, daß es tatsächlich vorwärts geht, hat man nur, solange man auf den eigenen zwei Beinen unterwegs ist.
    Zu Hause sitzt die Mutter vor dem Fernseher. In denNachrichten gibt es ein Interview mit Mario Kempes, dem Helden der WM 78. Kempes sagt, er garantiere den Fans, daß die argentinischen Farben es bis nach ganz oben schaffen werden. Kempes spielt seit ein paar Jahren in Spanien, er benutzt Wörter wie »Fans« – früher hätte er bestimmt »Anhänger« gesagt. Auch seine Aussprache ist jetzt anders, das ist nicht zu überhören. Bei der WM 78 hat er sechs Tore geschossen, zwei davon im Finale.
    Nachdem sie ihre Mutter begrüßt hat, geht María Teresa ins Badezimmer. Zuerst seift sie sich von oben bis unten ein, erst danach gibt sie Shampoo auf ihre Hand, um sich die Haare zu waschen, sonst macht sie es andersrum. Sie benutzt einen Deo-Stick, von Spray muß sie immer niesen, außerdem findet sie es wenig weiblich. Manchmal legt sie auch Puder auf, so wie heute.
    Sie zieht Hauskleidung an: eine Trainingshose, das Pyjamaoberteil, die gefütterten Pantoffeln. Dann setzt sie sich zu ihrer Mutter und sieht fern. Sie kann sich nicht konzentrieren. In raschem Wechsel ziehen Bilder von allem möglichen vor ihren Augen vorbei: ein Erdbeben, eine Landstraße, Regen, ein Verletzter, ein Schiff, das untergeht, ein Schützengraben; sie bekommt kaum mit, was sie da sieht.
    Sie

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