Sittenlehre
reicht bis zum Boden, völlige Diskretion ist allerdings auch hier nicht gewährt, da oben und unten jeweils ein Streifen Milchglasscheibe den Abschluß bildet; dafür läßt die Türe sich aber mit einem Schlüssel verschließen. Verspürt sie ein Bedürfnis, was zum Glück nicht so oft vorkommt, begibt María Teresa sich also auf diese Toilette. Der Weg dorthin ist kurz, vom Aufseherzimmer aus braucht man weniger als eine Minute. Wahrscheinlich ist das der einzige Moment des Tages, in dem María Teresa im Colegio allein ist: auf dem Weg zu und zurück von dieser Toilette.
María Teresa hat am Morgen kurz hintereinander zwei Tassen Tee mit Zitrone getrunken, und jetzt möchte sie auf die Toilette gehen. Sie hat es ein wenig eilig. Den Toilettenbesuch nutzt sie auch dafür, um vor dem Spiegel, der hier immer fleckenlos sauber ist, die Spangen zurechtzurücken, mit denen sie sich die Haare aus dem Gesicht hält. Sie kommt aus der Toilette und begibt sich auf den Weg zurück ins Aufseherzimmer. Unterwegs fängt sie Herr Biasutto mitten im Gang stehend ab. Es sieht so aus, als wollte er ein Stück mit ihr zusammen gehen – als Begleitschutz gewissermaßen –, aber dann bleibt er stehen und hält auch sie zurück.
»Alles in Ordnung?«
»Ja, Herr Biasutto.«
Er räuspert sich.
»Gibt es irgend etwas Neues? Haben Sie mir etwas mitzuteilen?«
»Nein, Herr Biasutto.«
Er schaukelt seltsam vor und zurück, macht aber ein zustimmendes Gesicht.
»Sehr gut, sehr gut. Freut mich sehr.«
Er öffnet die Hände und legt sie dann plötzlich aneinander, als wollte er Beifall klatschen. Das macht er aber nicht, oder wenn doch, dann bleibt sein Beifall ganz und gar unhörbar. Was er da vollzieht, ist eher eine Zufriedenheitsbekundung.
»Dann kommen Sie jetzt mit.«
María Teresa macht, was er sagt, und kommt mit ihm mit. Allerdings auf recht eigentümliche Weise: Sie geht nämlich voran, Herr Biasutto geht hinterher. Trotzdem ist es so, daß sie ihm folgt, er sagt, wohin, und sie gehorcht. Sie gehen immer geradeaus den Gang entlang, bis zum Ende, wo sie links abbiegen. Dann weiter, als wollten sie zum Kiosk, aber kurz davor verschwinden sie.
Ohne sich lange umzusehen, betritt María Teresa die Knabentoilette. Wozu auch: Herr Biasutto ist ja dabei, seine Anwesenheit genügt, da darf sie das. Auch wenn es den Eindruck machen könnte – weil sie so überstürzt hineingeht –, entscheidet sie sich nicht für eine x-beliebige Kabine. Es ist die zweite von links. Drinnen stellt María Teresa fest, daß der kaputte Riegel inzwischen ersetzt worden ist, da, wo der alte war, befindet sich nun ein nagelneuer, der mit vier Schrauben befestigt ist (vier neue Schrauben, nicht bloß drei wie zuvor). Mit einem Klicken, das sich unwiderruflich anhört, betätigen Herrn Biasuttos zigarrengleich rauhe Finger diese Schließvorrichtung. María Teresa sieht ihn abwartend an, als wüßtesie nicht, was folgt. Herr Biasutto würdigt sie keines Blickes.
Er zeigt sich kaum weniger ungeschickt als beim ersten Mal. Er verhaspelt sich, aus Hast oder Ungestüm. Mit übertriebenem Schwung schiebt er ihr den Rock hinauf, ihr kommt es vor, als bliese sie von unten der Wind an; den Schlüpfer zerreißt er bald, er hat kein Gefühl dafür, daß man mit manchen Materialien sachte umgehen muß. Das Ganze wird nicht einfacher zu ertragen dadurch, daß es schon einmal vorgekommen ist, von wegen. Es hilft überhaupt nichts, daß alles in genau der gleichen Weise abläuft, so als handelte es sich, wäre doch schön, um ein eingespieltes Ritual. Sie ist ebenso fassungslos wie damals, ebenso entsetzt, ebenso verängstigt. María Teresa steht mit dem Gesicht zur Wand und zittert. Nur einen Vorteil hat es, daß diese Demütigung der ersten aufs Haar gleicht: Diesmal weiß María Teresa von Anfang an, daß das Ding von Herrn Biasutto nicht zum Einsatz kommen wird. Da ist wieder die gräßliche Hand, die vorwärts drängt, der Finger, der rücksichtslos auf Erkundungsreise geht. Das unsägliche Gewimmer, die lange Wartezeit, der Schmerz, der durch und durch geht, das Ende ohne Abschluß. Das schwachsinnige Grinsen von Herrn Biasutto, das um Nachsicht bettelt oder sie sich einfach zuteil werden läßt. Und die Kälte auf der Toilette des Colegio.
María Teresa ordnet ihre Kleider, und Herr Biasutto geht noch nicht gleich aus der Kabine. Der Nachmittag ist feucht, nicht nur kalt, die Kacheln an der Wand sind beschlagen, als stiege von irgendwoher Dampf auf. Er
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