Sizilien - eine Geschichte von den Anfaengen bis heute
schien günstig, war doch die politische Klasse landesweit in Auflösung begriffen. Polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Untersuchungen unter dem Namen „Mani pulite“ („Saubere Hände“) hatten in Norditalien weit verzweigte Netzwerke wechselseitiger Begünstigung zwischen Politik und Wirtschaft, in einem Wort: Korruption als System zu Tage gefördert, das die meisten etablierten Parteien dominierte. Mit dem sang- und klanglosen Abtreten der alten Protagonisten von der politischen Bühne klaffte ein Vakuum, das unerwartet schnell von neuen Organisationen gefüllt wurde. Landesweit am erfolgreichsten war die von dem Medienunternehmer und Milliardär Silvio Berlusconi gegründete „Forza Italia“, die sich als betont unpolitisch, ja als Befreiung vom Joch der alten Partitokratie, pragmatisch, wirtschaftsfreundlich, offen für sozialen Aufstieg, als Sachwalterin der kleinen Leute, antizentralistisch, summa summarum als Erneuerung genuin italienischer Kräfte und Tugenden präsentierte – und so vielen viel zu bieten schien.
In Sizilien aber profitierte vom viel beschworenen Neuanfang vor allem „La Rete“, „das Netz“. Damit waren nicht die Netzwerke nützlicher Freundschaften |197| zwischen Honoratioren gemeint, die Sizilien so lange dominiert hatten, sondern die Gegenkräfte, die diese Cliquenherrschaft ein für allemal aufbrechen und der Mafia das Handwerk legen sollten: Bürgersinn, Solidarität und Mut. Gründer des „Netzes“ war Leoluca Orlando, der der alten sizilianischen Führungsschicht entstammte und 1985 als Mitglied der Democrazia Cristiana zum Bürgermeister von Palermo gewählt worden war. In dieser Position hatte er die Interessenunion von Wirtschaft und Politik bekämpft, und zwar von der eigenen Partei zunehmend behindert. Als Führer von „La Rete“ triumphal wiedergewählt, amtierte Orlando, zeitweise auch Abgeordneter des Europäischen Parlaments, als Stadtoberhaupt von Palermo bis 2000. Vor allem in den frühen 1990er Jahren gelang ihm die Mobilisierung breiter Kreise gegen die Mafia, die deren Stellung vor Ort zum ersten Mal überhaupt stärker zu gefährden schien. Was davon am Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jh. bleibt, ist schwer zu bestimmen. Orlando selbst trat im Frühjahr 2007 erneut zur Wahl in Palermo an und unterlag knapp |198| dem Kandidaten des von Berlusconi geführten Mitte-Rechts-Bündnisses. In den italienischen Medien ist das Problem der organisierten Kriminalität nach einer regelrechten Hochkonjunktur in Form von Filmen, Fernsehspielen und Romanen auffällig absent. Stattdessen beherrscht das Thema Brückenbau die politische Diskussion in Sizilien: Ist die Straßenverbindung auf Betonstelzen zwischen Villa San Giovanni und Messina die Einlösung eines Menschheitstraums oder aber eine ökologisch desaströse Profitquelle für die Mafia und die von ihr beherrschte Bauindustrie?
|197| Ein Bild der Verwüstung bot der Tatort in Palermo nach dem Anschlag vom 19. Juli . Der Richter Paolo Borsellino sowie fünf seiner Leibwächter wurden bei diesem Attentat der Mafia getötet, rund 17 Menschen verletzt.
|198| 40 Jahre nach Erlass des Haftbefehls wurde Bernardo Provenzano am 11. April verhaftet. Das Bild zeigt eine nachgestellte Szene: Polizisten inspizieren das Gehöft bei Corleone, wo der Boss der Bosse zuletzt gelebt hatte.
Ein Hauptziel von „La Rete“ war die Rückbesinnung auf ein anderes Sizilien, das heißt: auf eine Geschichte, die mehr war als die Mafia, und auf ein in zweieinhalbtausend Jahren gewachsenes kulturelles Patrimonium, dessen Reichtum in der Welt seinesgleichen sucht. In diesem Sinne galt es, ein Bild der Insel zu verbreiten, das nicht von organisierter Kriminalität, sondern von bäuerlichem |199| Fleiß, einer reichen Volkskultur und großen politischen Traditionen wie dem Königreich Rogers II. geprägt werden sollte. Eine Ahnung von der Vielfalt, den Spannungen, Konflikten und Problemen, einer Vergangenheit, die stärker als irgendwo sonst in Europa die Gegenwart bestimmte, hatte bereits Giuseppe Tomasi di Lampedusas 1958, d. h. postum, veröffentlichter Weltbestseller „Il gattopardo“ (deutsch: Der Leopard) vermittelt. Er endete im Verlust aller Illusionen, ja in Ausweglosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Die alte, dem Volk in patriarchalischer Nähe verbundene Aristokratie trat ab, der Leopard machte dem Schakal, dem raffgierigen Ex-Pächter Platz, der die Ausbeutung seiner „Vasallen“ zur Perfektion bringen
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