Sizilien - eine Geschichte von den Anfaengen bis heute
kein Interesse mehr hatten.
1893 wurde mit Emanuele Notarbartolo erstmals ein hoher Staatsbeamter aus politischen Gründen ermordet. Als ehemaliger Direktor der Bank von Sizilien hatte er umfangreiches Material über die Verflechtung von Staat und Wirtschaft und als deren Folge über die wundersame Vermehrung von Politikervermögen gesammelt, dessen Publikmachung viele fürchteten. Der mehr als mutmaßliche Anstifter des Anschlags, der Parlamentsabgeordnete Raffaele Palizzolo, wurde sechs Jahre lang gar nicht behelligt, dann freigesprochen, später außerhalb Siziliens verurteilt, doch wurde dieses Urteil in der nächsthöheren Instanz wieder aufgehoben, weil die Zeugen plötzlich unter Gedächtnisverlust litten: ein Präzedenzfall in jeder Hinsicht, nicht zuletzt dadurch, dass Palizzolo den Rest seiner Tage als lokaler Held verbringen durfte. Wie sollte es auch anders sein, wenn Wählerstimmen per Zeitungsannonce meistbietend offeriert wurden.
Doch lebten parallel dazu die großen kulturellen Traditionen der Insel fort. Schriftsteller wie Giovanni Verga, der in seinen Romanen die harten Lebensbedingungen und die archaischen Mentalitäten auf dem Lande eindrucksvoll schilderte, und der Dramatiker und Novellenautor Luigi Pirandello gewannen |186| eine weit über Sizilien und Italien hinaus reichende Berühmtheit. Zentrum der intellektuellen Aktivitäten war vor allem Catania – der alte Gegensatz zwischen dem feudalen bzw. von der Mafia durchdrungenen Westen und dem mobileren und offeneren Osten der Insel lebte im 20. Jh. fort. Allerdings galt die sozialistische Stadtregierung Catanias als kaum weniger korrupt als ihr Pendant in konservativ beherrschten Städten. 1911, am Vorabend des allgemeinen Wahlrechts für die männliche Bevölkerung, waren immer noch mehr als 50 % der Insel-Bevölkerung Analphabeten. Dementsprechend hoch war die Auswanderung, vor allem in die USA. Sie wurde häufig von der lokalen Mafia organisiert, die daran glänzend verdiente. Der dadurch verursachte Aderlass war enorm, manche Landstädte verloren in wenigen Jahren vier Fünftel ihrer Einwohner. Eine demographische Katastrophe traf am 28. Dezember 1908 Messina. Um 5 Uhr 20 |187| bebte die Erde so stark wie nie zuvor. Durch die einstürzenden Häuser und die zehn Meter hohe Flutwelle kamen an die 100 000 Menschen ums Leben, noch sehr viel mehr verloren ihre Existenzgrundlage und wanderten aus.
|186| Tonnen mit Ruinenlandschaft: Messina wurde am 28. Dezember durch ein schweres Erdbeben fast völlig zerstört.
|187| Die zerstörte Präfektur.
Doch bewirkte die Emigration auch Wandel in Sizilien selbst. Die Überweisungen der in der Neuen Welt zu Wohlstand Gekommenen veränderten allmählich die Vermögens- und Rangverhältnisse in der Heimat, wohin sie nach ihrer Rückkehr neue Ideen, Erwartungen und Lebensformen importierten. Ganz neue Nutzungsformen ohne Adel,
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und Mafia erprobten die Agrarkooperativen, die sich trotz mancherlei Gegenwehr und Einschüchterung zu behaupten und effizientere Anbaumethoden einzuführen vermochten. Allerdings blieb das Problem der Kreditvergabe häufig ungelöst. Die großen Banken vergaben keine Darlehen an ländliche Produktionsgenossenschaften, so dass häufig nur der örtliche
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als Kreditgeber in Frage kam, dessen Zinsen mehrere Hundert Prozent betragen konnten – auch die Tradition des ländlichen Wuchers lebte im 20. Jh. fort.
|188| Im Ersten Weltkrieg, in den Italien 1915 in der Hoffnung auf territoriale Zugewinne eintrat, war der Blutzoll des Südens überdurchschnittlich hoch. In den Schützengräben des Isonzo, tausend Kilometer von der Heimat entfernt, wurden bevorzugt junge Männer von der Insel in einem Krieg verheizt, der sie nichts anging – so die auf der Insel vorherrschende Einschätzung. Die Überlebenden aber waren nach ihrer Rückkehr nicht mehr ohne weiteres bereit, sich den verkrusteten Hierarchien zu fügen; schließlich war ihnen zur Hebung der Kampfmoral eine umfassende Landreform versprochen worden. Da diese ausblieb, kam es wie überall in Italien ab 1919 zu Landbesetzungen. Doch dagegen wehrten sich die Großgrundbesitzer auf ihre Art. Zum einen zogen sie einzelne sozialistische Führer durch Bestechung auf ihre Seite; und zum anderen gab es für die grobe Arbeit immer noch die Mafia. Das Gespenst der „roten Gefahr“ jedenfalls ging in den Salons der Reichen nicht um – anders als in großen Teilen des Festlands, wo sich der Führer der
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