Skandal im Königshaus Meisterspionin Mary Quinn 3
Lang.«
Vierundzwanzig
Donnerstagnachmittag
Buckingham-Palast
A ls Mary den Dienst antrat, begutachtete Mrs Shaw sie mit grimmigem Blick. »Du siehst nicht sehr erholt aus – immer noch käsig und aufgedunsen. Bist du sicher, dass es dir gut genug geht? Es kommt nicht infrage, dass du womöglich im Beisein Ihrer Majestät umkippst.«
»Es geht mir viel besser, danke, Ma’am.«
»Dann fang doch mit dem Blauen Salon an. Sei gründlich. Ich bezweifle, dass diese Tranter beson ders reinlich war.«
Der Blaue Salon wurde gewöhnlich abends benutzt, vor und nach offiziellen Abendessen. Gelegentlich empfing Ihre Majestät dort auch am Nachmittag größere Gruppen, aber nur zu besonderen Anlässen, was heute nicht der Fall war. Und doch, als Mary eintrat, hatte sie das Gefühl, dass im selben Moment die andere Tür zugezogen wurde. Sie blieb stehen. Es war ein großer Saal, ehemals ein Ballsaal, der erst einige Jahre zuvor in einen Salon umgestaltet worden war. Möglicherweise hatte sie nur den Widerhallihrer Tür gehört. Doch als sie langsam weiterging, hätte sie schwören können, forteilende Schritte zu hören.
Sie ging schneller und sah sich nach allen Seiten um. Es war lächerlich anzunehmen, dass sich jemand hinter einer spanischen Wand oder neben einem Kamin versteckte, doch sie blieb misstrauisch. Die Tür auf der gegenüberliegenden Seite war tatsächlich nicht ganz geschlossen. Das Geräusch, das sie gehört hatte, stammte möglicherweise von einem Luftzug beim Zuziehen der Tür.
Sie wandte sich um und fing mit dem Staubwi schen an – dann machte sie nochmals kehrt. Vorsichtig öffnete sie die eine Tür. Nichts. Na also. Sie wurde allmählich wirklich zu misstrauisch. Selbst wenn jemand die Tür bewegt hatte, war es sicher nur ein Lakai bei der Arbeit gewesen.
Nun gut. Staubwischen. Sie begann bei dem nächstbesten hohen Wandbrett. Das Ärgerlichste am Staubwischen in den Repräsentationsräumen war die unglaubliche Menge an kleinem Nippes, den man hochnehmen, abwischen und wieder hinstellen musste. Vielleicht war das Erstaunlichste an den Diebstählen, dass sie überhaupt bemerkt worden waren. Sie bewegte sich im Uhrzeigersinn durch den Saal, immer von oben nach unten, wie man es ihr beigebracht hatte.
Als sie zu dem Kaminsims kam, runzelte sie die Stirn. Irgendwas stimmte hier nicht. Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete die Dekoration: einevergoldete Uhr, eine kleine antike Vase, eine ländliche Szene aus Meissner Porzellan, verschiedene Gefäße aus blitzendem Kristall … Ja. Die zweite Vase fehlte, sodass die Symmetrie auf dem Kaminsims gestört war. Ein kurzer Blick durch den Raum zeigte, dass sie nicht auf einem nahe stehenden Tischchen oder einer Konsole gelandet war. Äußerst seltsam. Beim näheren Hinsehen entdeckte Mary einen kaum erkennbaren Abdruck in der dünnen Staubschicht auf dem Kaminsims. Da: ein Kreis, wo die Vase hätte stehen sollen, jetzt teilweise überdeckt von einer Schnupftabakdose aus geschnitztem Elfenbein.
Marys Kopfhaut prickelte. War ihr der Palastdieb nur um Sekunden entwischt? Sie eilte zu der Tür, die sie gerade geschlossen hatte. Natürlich nichts. Und der Korridor verriet auch nichts – kein in der Eile verlorenes Taschentuch mit Monogramm zum Beispiel. Hatte sie tatsächlich erwartet, ein eindeutiges Beweisstück zu finden? So verlockend es auch war, sie entschied sich, die Verfolgung nicht aufzunehmen. Der Dieb mochte mittlerweile sonst wo im Palast sein – vielleicht sogar schon außerhalb – und eine kleine Vase wie diese konnte leicht in einer Rocktasche oder einer Handtasche mitgeführt werden. Das war Zeitverschwendung. Lieber sollte sie sich den Tatort genauer ansehen.
Sie trat zurück an den Kaminsims und betrachtete die verbliebene Vase. Auf dieser war eine klassische Szene abgebildet: Persephone in der Unterwelt, den verhängnisvollen Granatapfel in Händen. Auf derfehlenden Vase war wahrscheinlich die Wiedervereinigung Persephones mit ihrer Mutter Demeter zu sehen. Das konnte man sicher in einem Verzeichnis des Palastinventars überprüfen. Das Fehlen von nur einer der Vasen ließ zwei mögliche Rückschlüsse in Bezug auf den Dieb zu: Er oder sie besaß nicht einmal eine rudimentäre klassische Bildung, oder er oder sie war zu unaufmerksam oder in Eile gewesen, um festzustellen, dass die Vasen zusammengehörten. Als Paar waren sie nämlich mehr wert als jede für sich.
Damit war Honoria Dalrymple eigentlich nicht
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