Skandal im Königshaus Meisterspionin Mary Quinn 3
haben die gleiche Form wie Ihre, mein Mund auch, und –« Bestürzt merkte sie, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Unwillig wischte sie sie fort. »Und ich bin Ihr einziges Kind. Sie sind mein einziger lebender Verwandter. Bedeutet Ihnen das gar nichts?
Das war nämlich mal anders. Früher sind Sie mit mir in den Straßen von Limehouse spazieren gegangen, wenn Mama Abendessen gemacht hat. Sie haben mir immer wieder gesagt, ich müsste groß und stark werden und sollte mich immer daran erinnern, wie lieb Sie mich hätten. Sie haben gesagt, die Wahrheit würde mich frei machen, und ich solle daher immerdie Wahrheit sagen.« Sie weinte jetzt still vor sich hin. Tränen tropften auf ihr Kleid, auf das zerlumpte Bettzeug und auf Langs verkrüppelte Hände. »Sie waren mein Held. Und jetzt lügen Sie mich an, gegen besseres Wissen, gegen jegliches Mitgefühl und alles, was Sie mir beigebracht haben.«
Sie kramte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch – warum hatte sie nie ein sauberes Taschentuch? –, da wurde sie von seiner Stimme überrascht.
»Der Mann hat auch immer gesagt, dass der Charakter Schicksal ist.«
Mary starrte ihn an. »Sie geben also doch zu –«
»Ich gebe gar nichts zu. Aber Ihr Vater hat gesagt, dass der Charakter Schicksal ist, und dem stimme ich zu.« Sein Blick war zielgerichtet, trotz des hektischen Glitzerns. »Sehen Sie mich an: ein schwächlicher, eitler Mann, verdorben und zerstört vom Opium.«
»Aber –«
»Wenn ich Ihr Vater wäre«, sagte Lang mit so sanfter Stimme, dass Mary fast wieder zu weinen begann, »und wenn ich mich in so einer Lage befände, würde ich Sie niemals als meine Tochter anerkennen.« Er sah sie an. »Niemals. Nicht, um Ihnen wehzutun – wirklich nicht. Aber um Ihnen die Schande zu ersparen, solch einen Mann als Vater zu haben.«
Ihre Gedanken überschlugen sich. »Aber ich möchte, dass Sie mein Vater sind!« Es war schwierig, die Worte nicht herauszuschreien. »Mir ist egal, was Sie gemacht haben oder wen Sie umgebracht haben oderob Sie drogenabhängig sind. Ich kenne Ihre schlimmsten Eigenschaften, aber ich will trotzdem Ihre Tochter sein!«
Er sah sie durch halb geschlossene Augen an. »Nein. Sie denken jetzt mit dem Herzen. Aber sobald Sie mit dem Verstand denken, werden Sie begreifen, dass ich recht habe.«
»Verdammt!« Sie schlug auf die Matratze und eine Wolke dunklen Staubs stieg auf. Beide mussten husten. »Hier geht es um Liebe und Familie. Da sollte ich mit dem Herzen denken.«
Er sah sie an und ihr Herz setzte einen Moment aus. Es war ein so vertrauter Ausdruck von Zuneigung und Tadel, einer, den sie in ihrer Kindheit Hunderte Male gesehen hatte. »Junge Frau, es geht hier nicht nur um Familienbande. Es geht auch ums Überleben. Um Ihre Zukunft. Ihr Leben als freie, gebildete, ehrbare Dame.« Die Betonung, die er auf das letzte Wort legte, war unüberhörbar. »Sie haben Ihre Wurzeln hinter sich lassen müssen; das war schlimm. Aber es wäre eine noch größere Tragödie, zuzulassen, dass vergangener Kummer und die Sünden anderer Ihr jetziges Leben zerstören.«
Mary schloss die Augen, als könne das auch seine Worte ausblenden. Es stimmte natürlich. Wie alles, was ihr Vater je gesagt hatte. Und Opiumsüchtiger oder nicht, Mörder oder nicht, er handelte nur in ihrem Interesse. Sie rief sein altes Bild in sich auf, in seinen besten Jahren – sanft, gut aussehend, freundlich –, und als sie die Augen wieder öffnete, war esnicht so schwierig, die beiden Lang Jin Hais zusammenzubringen. Nicht, nachdem er so zu ihr gesprochen hatte. »Wenn ich es aber will?«, fragte sie, stand auf und begann, in der kleinen Zelle auf und ab zu gehen. »Wenn ich meine gesellschaftlichen Möglichkeiten zerstören will, mein englisches Leben, diese Lüge, mit der ich lebe?«
Lang sank ein wenig in sich zusammen, als habe ihn die Anstrengung geschwächt. »Wenn. Wenn Sie sich entscheiden würden, alles zu opfern, was Sie erreicht haben, um sich einen ausländischen Mörder und Opiumsüchtigen aufzuhalsen, würden Sie trotzdem nichts erreichen. Ich würde dennoch gehängt werden. Und der Adlige würde nicht wieder lebendig.«
»Ich würde Ihre Tochter sein.«
»Eine schöne Schande.«
»Wenn ich genau das aber will?« Sie suchte in ihrer Handtasche nach einem weiteren Fläschchen mit dem Gift. Mit der Erlösung.
Er trank es voller Gier, wenn auch eher verstohlen. Er schämte sich, dass sie ihn so sah, jetzt, nachdem sie
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