Skandal im Königshaus Meisterspionin Mary Quinn 3
fast ganz unverhohlen miteinander redeten. »Warum belassen Sie es bei gesellschaftlichem und materiellem Selbstmord? Was Sie vorschlagen, grenzt an konkreten Selbstmord.«
Mary wusste, dass er abschreckend klingen wollte. Was ihm auch gelang. Nur das Scharren der Stiefel des Wärters zwang sie, ihre förmliche aufrechte Position wieder einzunehmen.
»Zehn Minuten, Miss.«
Sie nickte, unfähig, etwas zu sagen, darauf bedacht, den Wärter nicht anzublicken, damit er die Spuren von Tränen auf ihrem Gesicht nicht sah.
Als er, nach einem misstrauischen Blick auf Lang, wieder ging, kauerte sie sich erneut hin. »So leicht werden Sie mich nicht los«, sagte sie. Während der Unterbrechung hatte sie ihre Fassung zurückgewonnen. »Ich habe eine letzte Frage an Sie: Ich kann Ihnen helfen zu entkommen. Ich werde alles organisieren. Ohne große Umstände. Wenn ich Sie dazu auffordere, kommen Sie mit?«
Endlich war es ihr gelungen, ihn aufzurütteln. Er sank zurück auf seine Pritsche und stieß mit einem Aufstöhnen an die Wand. Wies ihre hilfreiche Geste zurück. »Mir geht es gut. Sie jedoch sind verrückt.«
»Es ist früher schon gelungen, einem Priester aus elisabethanischer Zeit. Es gibt einen Zugang von diesem Turm zum Wasser, direkt zur Themse. Wenn wir den richtigen Zeitpunkt erwischen, können wir aus London fort sein, ehe es jemand bemerkt.«
»Ich bezweifle nicht, dass Sie das schaffen könn ten . Aber sehen Sie mich doch an.« Er setzte sich auf, streckte die Arme aus und rollte die zerlumpten Ärmel hoch. Seine Haut war mit blauen Flecken übersäht und dünn wie Papier. »Haben Sie meine Hand vergessen?« Er zeigte ihr die schlimme, schwarz verkrustete Schnittwunde, aus der Wundflüssigkeit si ckerte . Weiße Linien zogen sich sternförmig von denWundrändern. »Damit kann ich kein Seil hinunterklettern, nicht mal eine Leiter.«
»Ich bin ja nicht dumm. Das Anstrengendste ist, die Treppe hinunterzusteigen und in ein Boot zu klettern.«
»Und dann? Wir fahren nach Greenwich und leben als glückliches fahrendes Volk, sammeln Beeren und wildern dann und wann einen Fasan?« Trotz seiner Schwäche war er sehr aufgebracht. »Sie törichtes, impulsives, idealistisches Mädchen. Ich bin todgeweiht, so oder so. Es spielt keine Rolle, ob mich Ihre Majestät hängen lässt oder ob ich an Blutvergiftung sterbe oder ob mich einer der Wärter nachts erwürgt. In vierzehn Tagen bin ich tot, egal wie.«
Ganz so naiv war sie nicht gewesen. Ihr Plan hatte vorgesehen, eine Weile in Limehouse unterzutauchen. Sie bezweifelte, dass die Polizei in der Lage sein würde, Lang dort zu finden, da ein Chinese wie der andere aussah – zumindest für Engländer. Danach vielleicht Bristol oder Liverpool – eine andere Hafenstadt mit einer kleinen asiatischen Gemeinde. Aber über die Einzelheiten hatte sie noch nicht nachgedacht. Die Komplikationen, die sein schlechter Gesundheitszustand mit sich brachte, seine Sucht, sein fehlendes Interesse am Überleben.
Es schnitt ihr tief ins Herz. Dieses Desinteresse war auch ihr ein vertrautes Gefühl. Genauso hatte sie sich mit zwölf gefühlt, als sie wegen eines Einbruchs verurteilt worden war. Damals hatte sie keine Zukunft gehabt. Hatte keinen Grund gesehen, warum ihr Lebennicht gleich enden sollte. Doch die Frauen der Agentur hatten ihr bewiesen, dass sie sich irrte. Es war ihre erste Lektion in der Akademie gewesen.
»Wenn Sie entkommen, ist Ihr Fatalismus die größte Gefahr für Ihr Leben. Die Schnittwunde versorgt ein Arzt. Vom Opium können Sie sich entwöhnen. Sie sind doch kein alter Mann – fünfundvierzig oder fünfzig? Wenn Sie es wollen, können Sie noch mal neu anfangen.«
Er schüttelte nur den Kopf.
»Was heißt das? Sie glauben mir nicht? Sie wollen nicht?«
»Sie sind eine mutige, warmherzige junge Dame. Vergeuden Sie das nicht an mich.«
Sie hatte ihre Sturheit wohl von ihrem Vater geerbt. Schließlich, nach langem Schweigen, brachte sie so viel Gelassenheit auf, um zu sagen: »Ich weiß ja, dass dieser Vorschlag gefährlich klingt. Vielleicht möchten Sie darüber nachdenken. Ich komme morgen wieder und setze Ihnen meinen Plan genauer auseinander.« Schließlich brauchte sie ja auch noch etwas Zeit, um alles vorzubereiten und die nötigen Hilfsmittel zu organisieren.
»Ich werde meine Meinung nicht ändern, Kind.«
Kind.
Schnell blinzelte sie die aufsteigenden Tränen fort. »Das können Sie mir dann ja morgen noch mal sagen. Guten Tag, Mr
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