Skandal im Königshaus Meisterspionin Mary Quinn 3
lag immer noch zusammengekauert unter der stinkenden Decke – womöglich hatte er sich nicht bewegt, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte –, aber sein Zittern hatte stark nachgelassen.
»Mr Lang«, sagte sie leise und griff wieder in ihre Tasche. Sie schüttelte die Ampulle ein wenig. Diesmal hatte sie mehrere Flaschen mitgebracht, die sie bei verschiedenen Apotheken erworben hatte, um sich nicht verdächtig zu machen.
Wie am Faden gezogen drehte er Mary das Gesicht zu und streckte erwartungsvoll die Hand aus. Sie wartete, bis er die erste Flasche geleert hatte. Gab noch eine weitere Minute dazu, um die Wirkung abzuwarten. Dann fing sie schnell an, ohne sich Zeit für Zweifel zu lassen. »Ich habe Ihnen gestern mehrereFragen gestellt. Heute würde ich gerne von mir erzählen.«
Lang blinzelte sie benebelt an. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, das Weiß war gelblich, die Iris braunschwarz. Und dennoch waren es auch ihre Augen. Heute glänzten sie noch von etwas anderem als dem Laudanum: Fieber, vermutete Mary. Keine Überraschung, wenn man seine schreckliche Umgebung und die unbehandelte Wunde an seiner rechten Handfläche bedachte. Sie hätte etwas zum Reinigen des Schnitts mitbringen sollen. Das hatte sie vergessen. Ein Detail, das eine Flucht erschweren würde.
»Ich bin 1841 in Limehouse geboren. Meine Mutter war Irin, eine Näherin. Mein Vater war ein Laskar.« Er erwiderte nichts, doch seine Züge wurden härter und verschlossen sich ganz. »Wir waren eine arme, aber glückliche Familie – bis zum Jahr 1847 oder 1848, als mein Vater zu einer Seereise aufbrach, die seine letzte werden sollte. Sein Schiff ging unter. Er wurde als vermisst gemeldet, höchstwahrscheinlich tot. Meine Mutter war zu dem Zeitpunkt schwanger und hatte durch den Kummer eine Fehlgeburt. Ein Jahr später starb sie – aus Armut.
Ich habe irgendwie überlebt. Später wurde ich von einer Mädchenschule aufgenommen, einer Wohltätigkeitseinrichtung. Ich erzählte nichts von meinem Vater und verheimlichte meine Herkunft, aus Angst, abgewiesen zu werden. Doch vorletztes Jahr begegnete ich einem Mann, der mir etwas über meine Familiengeschichte erzählte. Sein Name war Mr Chen.«
Immer noch keine Reaktion von Lang.
Mary wappnete sich, um fortzufahren, auch wenn sie kämpfen musste, damit ihre Stimme unbeteiligt blieb. »Mr Chen zeigte mir eine Zigarrenkiste mit Dokumenten, die mein Vater in seiner Obhut zurückgelassen hatte. Darin war ein Brief, in dem mein Vater erklärte, dass seine Reise mehr war als eine normale Handelsreise. Er beschrieb sie als ›eine gefährliche, jedoch notwendige‹ Reise und ließ Dokumente zurück, die, so nehme ich an, den Grund für seinen Weggang erklärt hätten. Ich konnte die Dokumente leider nie lesen; sie wurden bei einem Hausbrand vernichtet, ehe ich sie holen konnte. Mr Chens Leiche wurde in dem abgebrannten Haus gefunden.« Wieder legte sie eine Pause ein. Sie hatte gehofft, dass ihn die Nachricht vom Tod seines alten Bekannten berühren würde. Doch er zuckte nicht mal mit der Wimper. Mary schluckte. War nun bereit, ihre Trumpfkarte zu ziehen.
»Es war jedoch ein Stück dabei, das nicht im Feuer verbrannt ist.« Sie zog die fadendünne Kette aus ihrem Ausschnitt. »Der Jadeanhänger, den Sie gestern beschrieben haben. Der Flaschenkürbis.« Der kleine Stein schimmerte matt in dem schwachen Licht – doch Lang sah nicht einmal hin. Seine Augen starrten auf einen Punkt zwischen ihnen, sorgsam bemüht, sein einziges Kind nicht anzusehen, das da vor ihm stand. Sie wartete geduldig und hoffte, dass in dem dämmrigen Licht nicht zu sehen war, wie ihre Hände zitterten.
Doch er sagte immer noch nichts.
Schließlich fuhr sie fort, sonst hätte sie den Tower fluchtartig verlassen müssen: »Du bist mein Vater«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte vor unvergossenen Tränen. »Leugnest du das angesichts der Beweise?«
Ganz langsam fokussierte sich sein Blick und er sah sie direkt an. »Ja.«
»Du leugnest es?«
Eine Pause. »Ich bin nicht Ihr Vater.«
»Und was ist hiermit?« Mary ließ den Verschluss der Kette aufschnappen und hielt sie ihm vors Gesicht. »Dieser Anhänger, den Sie gestern so genau beschrieben haben. Er ist doch eindeutig ein Beweis.«
Aber es war zu spät; er zog sich schon wieder in sich selbst zurück und seine Augen verschleierten sich.
Sie fiel auf die Knie, sodass er ihr ins Gesicht bli cken musste. »Ich sehe doch sogar wie Sie aus! Meine Augen
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