Sklaven der Begierde
zitterte, als sie eine Sehnsucht spürte, die sie längst tot und begraben geglaubt hatte: die Sehnsucht nach Händen, deren Berührung immer sanft und zärtlich war. Sie schüttelte das ungewohnte Verlangen energisch ab. Nach anderthalb Jahren hatten sich Wesleys Gefühle für sie doch sicher geändert. Schließlich hatte er sich verändert, sie konnte immer noch nicht glauben, wie sehr. Er kam ihr größer vor, sein Südstaatendialekt war ein bisschen auffälliger geworden, das längere Haar ließ ihn älter wirken. Er sah jetzt aus wie ein Mann, nicht wie der Junge, den sie gekannt und geliebt, geneckt und gequält hatte.
Nora hatte keine Lust mehr auf das Frage-und-Antwort-Spiel. Zum Teufel damit. Sie würde ihn einfach küssen und abwarten, was dann passierte. Sie reckte sich auf die Zehenspitzen, legte die Hand in seinen Nacken und zog seinen Mund zu ihrem. Er protestierte nicht.
Die Eingangstür von Wesleys Schloss öffnete sich, und aus dem Inneren ertönte eine Männerstimme. „John Wesley! Du weißt doch, dass du Bridget auch im Haus küssen darfst.“
Wesley trat einen Schritt zurück und wandte sich der Stimme zu. Der Mann, der in der geöffneten Tür stand, war der typische gut aussehende reiche weiße Südstaatler, ganz so, wie Nora ihn aus Film und Fernsehen kannte. Grau meliertes Haar, breite Schultern, ein noch breiteres Lächeln … jedenfalls so lange, bis er Nora näher in Augenschein nahm und feststellte, dass sie nicht Bridget war.
Nora hoffte, dass ihr eigenes Lächeln harmlos und freundlich wirkte, also ganz anders als ihr übliches Lächeln, das man eher als „verführerisch“ und „gefährlich“ bezeichnen würde.
„Hallo, Dad.“ Wesley packte Noras Hand und führte, nein zog sie weiter.
Wesleys Vater kniff die Augen zusammen. „Wen hast du denn da mitgebracht, J. W.?“
Nora schaute Wesley an. Ihre Lippen formten ein lautloses „J. W.?“
„Eleanor“ , gab Wesley ebenso lautlos zurück.
„Das ist meine Freundin, Nora Sutherlin.“
Nora riss ihre Augen verblüfft auf. Freundin? Wer? Sie?
Sie bemühte sich, nicht schockiert zu wirken, und lächelte Wesleys gut aussehenden Vater noch strahlender an als vorher.
Der Blick, den Wesleys Vater ihr daraufhin zuwarf, war voll abgrundtiefer und unmissverständlicher Ablehnung.
„Oh ja“, seufzte sie, als ihr aufging, dass ihre Gebete offenbar nicht erhört worden waren. „Er hat schon mal von mir gehört.“
NORDEN
DIE VERGANGENHEIT
Beim Abendessen schwieg Kingsley und hörte den anderen Jungen zu. Er kaute emsig, um gar nicht erst in die Versuchung zu kommen, sich durch Grinsen und Feixen zu verraten. Er wusste nicht, wie lange er die Täuschung aufrechterhalten konnte, wusste nicht mal, warum er überhaupt versuchte, seine Englischkenntnisse zu verbergen. Doch als er jetzt mit den anderen an der Tafel aus geschnitztem Eichenholz saß – die Schüler links, die Priester rechts – zählte Kingsley seine Sünden. Was hatte er nur getan, um diese Hölle auf Erden zu verdienen?
Er könnte Carol die Schuld geben, der hübschesten Cheerleaderin an seiner alten Schule. Er hatte eine Schwäche für Blondinen … Oder Janice, die vor jedem Heimspiel die Nationalhymne sang. Er hatte auch eine Schwäche für rothaarige Sopranistinnen. Susan … Alice … und Mandolin mit den blauen Augen und den langen Haaren, deren Eltern überzeugte Althippies waren … Er war im August an die kleine Highschool in Portland gekommen, und bis Thanksgiving hatte er drei Dutzend Mädchen gefickt. Aber im Grunde konnte er keine von ihnen für sein aktuelles Elend verantwortlich machen.
Er gab ihren Freunden die Schuld.
Kingsley wusste, dass er schnell und stark genug war, um es mit jedem Jungen an der Schule aufzunehmen. Aber sieben auf einmal? Da wäre keiner ungeschoren davongekommen. Auch er nicht.
Er war davongekrochen.
Zumindest hatte er es versucht. Aber nach ein paar Metern war er in einer Blutlache zusammengebrochen. Das Blut kam von einer Schnittwunde über seinem Herzen. Der Schnitt hatte ihm vermutlich das Leben gerettet. Zwar hatte er nur verschwommene Erinnerungen daran, wie er hinter dem Stadion zusammengeschlagen worden war, aber an das Messer erinnerte er sich genau. Als einer seiner Angreifer es ins Spiel brachte, gingen die anderen, die ihn eben noch getreten und geschlagen und angespuckt hatten, als er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, auf Abstand. Troy, der Junge mit dem Messer, war nicht der Freund, sondern der
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