Sklaven der Begierde
makellosem Französisch. Father Henry ist ein Held . „Du musst ihm nachsehen, dass er nicht besonders viel über Frankreich weiß. Während des Zweiten Weltkriegs war er in Polen und hat Juden in Sicherheit gebracht und Frauen und Mädchen vor den russischen Soldaten versteckt. Das weiß ich nur, weil ein anderer Priester es mir erzählt hat. Father Henry spricht nicht über die Hunderte von Menschenleben, die er gerettet hat. Er spricht über italienisches Essen und Krimis. Father Aldo ist Brasilianer. 1969 wurde er mit zwölf anderen von Guerillas entführt. Er war damals neunundzwanzig Jahre alt, und obwohl er aus reichem Hause stammt und seine Familie gute Verbindungen hat, war er der Letzte, der befreit wurde. Es war seine Entscheidung. Er weigerte sich zu gehen, bevor alle anderen in Sicherheit waren. Als er dann frei war, verzieh er seinen Entführern und bat öffentlich um mildernde Umstände für sie. Jetzt kocht er für uns.“
„Warum erzählst du mir das alles?“, fragte Kingsley. Zum ersten Mal seit dem Tod seiner Eltern war er den Tränen nah.
„Father Henry hat mich darum gebeten, dich auf St. Ignatius vorzubereiten. Und das mache ich jetzt“, erwiderte Stearns. „Kommst du?“
Kingsley folgte ihm schweigend.
Vor der Tür zum Speisesaal blieb Stearns stehen. An der Tafel saßen nur noch zwei Jungen. Sie aßen und redeten.
„Ton ami Matthew.“ Stearns deutete mit einer Kopfbewegung auf den kleinen Rotschopf, der ihn vor ein paar Stunden durch die Schule geführt hatte. Er saß neben einem etwas größeren Jungen mit schwarzem Haar und Brille. „Er ist vor eineinhalb Jahren hergekommen. Damals war er elf, sah aber aus wie acht. Seine Eltern haben ihn fast verhungern lassen. Er wurde dabei erwischt, wie er in Mülltonnen nach Essbarem wühlte. Eine reiche katholische Familie zahlt seine Schulgebühren hier. Der Junge neben ihm ist der Sohn dieser Familie. Keiner von beiden weiß das. Sie sind unabhängig davon Freunde geworden.“
Kingsley schluckte und folgte Stearns aus dem Speisesaal.
„Ich glaube, Father Henry meinte, dass du mir sagen sollst, wann der Unterricht beginnt und so.“
„Frühstück um sieben. Andacht um acht. Der Unterricht beginnt um neun. Morgen wirst du Father Martin kennenlernen, der gibt dir dann deinen Stundenplan.“
„Ich nehme an, Father Martin ist auch ein Held.“
„Father Martin ist Astronom. Er hat drei Kometen entdeckt und eine Formel entwickelt, mit der man die Ausdehnung des Universums berechnen kann. Jetzt ist er im Ruhestand. Seine Augen sind nicht mehr scharf genug, um den Himmel abzusuchen. Also unterrichtet er uns in Mathematik und Naturwissenschaften.“
Stearns führte ihn über den Hof zur Bibliothek. Im großen Lesesaal war jetzt nicht viel los, nur drei Jungen ungefähr in Kingsleys Alter hatten sich an der Wand vor dem Kamin niedergelassen. Stearns sah auf einem der Tische ein vergessenes Buch, nahm es an sich, warf einen prüfenden Blick auf den Buchrücken und trug seinen Fund zu einem Regal in der Nähe des Kamins.
„Stanley Horngren, das ist der mit dem Jackett …“ Stearns senkte sein majestätisches blondes Haupt und wies damit in Richtung eines der Jungen. „Er hat zwölf Geschwister und schuftet, um seine Familie finanziell zu entlasten. Jeden Sommer nimmt er zwei Ferienjobs an, um seine Schulgebühren hier selbst bezahlen zu können. Neben ihm sitzt James Mitchell, er hat ein Stipendium bekommen, wirklich beeindruckend – vor allem angesichts der Tatsache, dass er komplett taub ist und niemals eine Gehörlosenschule besucht hat. Wenn du mit ihm reden willst, sprich deutlich und achte darauf, dass er deine Lippen sehen kann.“ Er warf Kingsley einen finsteren Blick zu. „Und sprich Englisch.“ Er schob das Buch ins Regal, zweifellos genau an die richtige Stelle. „Der Junge auf dem Sofa heißt Kenneth Stowe. Er war zwei Jahre in der Sonderschule, weil seine Lehrer ihn für geistig behindert hielten. Dabei hat er nur eine leichte Lernschwäche und den IQ eines Genies. Heute ist er einer unserer besten Schüler. Die Bibliothek schließt um neun, wenn du sie mal länger brauchst, kannst du Father Martin um einen entsprechenden Ausweis bitten.“
Stearns drehte sich auf dem Absatz um und marschierte wieder nach draußen. Vor der Kirchentür blieb er stehen.
„Gottesdienst ist samstags um siebzehn Uhr und sonntags um zehn Uhr. Katholisch, selbstverständlich. Bist du Katholik?“
Kingsley schüttelte den Kopf. „Wir
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