Skorpion
zieht.« Norton spreizte die Finger und wandte sich hauptsächlich wieder an Sevgi. »Vermutlich werden wir bis zum Einbruch der Nacht warten. Man muss nur den richtigen Moment abpassen.«
Marsalis stand von seiner Liege auf und zuckte zusammen. Er ließ eine Schulter kreisen.
»Ist was?«, fragte Sevgi.
Er sah sie kurz an, als schätze er den Grad echter Besorgnis in ihren Worten ab. »Yeah. Vier Monate verschnittenes Betamyelinchlorid.«
»Ah, ja«, meinte Norton.
Marsalis spannte versuchsweise den rechten Arm, die Streckbewegung eines Bergsteigers, Handflächen im Nacken, Ellbogen neben dem Kopf. Erneut verzog er das Gesicht. »Sie haben vermutlich nicht gerade was da?«
Norton schüttelte den Kopf. »Eher unwahrscheinlich. Der menschliche Verkehr durch Perez ist heutzutage nur minimal. Keine große Nachfrage nach netzbezogenen Produkten. Können Sie warten, bis wir nach New York kommen?«
»Ich kann ziemlich gut ewig warten. Ich würd’s nur lieber nicht, wenn es Ihnen recht ist. Es ist, äh, unangenehm.«
»Wir beschaffen Ihnen ein paar Schmerztabletten«, versprach Sevgi. »Sie hätten letzte Nacht was sagen sollen.«
»Hab ich ganz vergessen.«
»Sehen Sie, ich kümmere mich sowieso um die Vorräte«, bemerkte Norton. »Man weiß ja nie. Es könnten noch ein paar auf Eis liegen.«
»Danke sehr.« Marsalis sah zwischen den beiden COLIN-Angestellten hin und her, dann nickte er zur Tür der V-Kammer hinüber. »Ich geh ein wenig spazieren. Bin am Strand, falls Sie mich brauchen.«
Norton wartete, bis er verschwunden war.
»Wie bitte? Falls wir ihn brauchen? Sehe nur ich das so, oder ist nicht er derjenige, der gerade jetzt etwas von uns will?«
Sevgi unterdrückte ein unerwartetes Lächeln. »Er ist ein Dreizehner, Tom. Was willst du da machen?«
»Nun ja, nicht sonderlich intensiv nach seinem Betamyelin suchen, das fällt mir so als Erstes ein.«
»Er hat ›Vielen Dank!‹ gesagt.«
»Ja.« Norton nickte widerwillig. »Hat er.«
Er zögerte, und Sevgi konnte fast hören, was er sagen würde, bevor er den Mund öffnete. Sie ertappte sich dabei, dass sie es plötzlich, unerwartet, für ihn aussprach.
»Ethan, stimmt’s?«
»Sieh mal, ich weiß, du magst es nicht…«
Sie schüttelte den Kopf. »Schon gut, Tom. Weißt du, vielleicht bin ich bei gewissen Themen viel zu sensibel. Vielleicht ist es an der Zeit. Ja? Du wolltest nach Ethan fragen? Ob er so war?«
Kleine Pause.
»War er so?«
Sie seufzte und überprüfte die Siegel auf ihrer Selbstbeherrschung. Atmung ein wenig zittrig, aber ansonsten scheiß drauf, Sev, es sind vier Jahre her, du musst…
Musst was? Brauchst was?
Du brauchst… etwas, Sev. Etwas Bestimmtes, verdammt, brauchst du.
Erneuter Seufzer. Geste zur Tür, durch die Marsalis gerade hinausgegangen war.
»Ethan war ein anderer Mann, Tom. Ethan war nicht sein Gencode, er war nicht bloß ein aufgemotzter Dreizehner und ein normal gepoltes limbisches System. Er…«
Noch eine hilflose Geste.
»Erkenne ich Gemeinsamkeiten? Ja. Hatte Ethan dieselbe Haltung von He, schneid mir doch die verdammte Kehle durch und sieh mal, ob’s mir was ausmacht? Ja. Hat Ethan jeden normalen Mann im Raum genauso auf die Palme gejagt, wie Marsalis dich auf die Palme jagt? Ja. Macht das…«
»Sev, ich will nicht…«
»Doch, Tom.« Sie spreizte die Hände und zeigte jenes Lächeln, das sie zuvor unterdrückt hatte. »Doch. So sind sie gebaut worden, dazu sind sie da. Und deine Reaktion – so haben sie dich gebaut. Es ist nur so, dass die Evolution einhunderttausend Generationen benötigt hat, um dich zusammenzusetzen, und die menschliche Wissenschaft weniger als ein Jahrhundert, um sie zu bauen. Schnelleres System-Management, das ist alles.«
»Was ist das, ein Zitat aus einer Broschüre vom Projekt Gesetzeshüter?«
Sevgi schüttelte den Kopf, behielt jedoch das Lächeln bei. »Nein. Nur etwas, das Ethan immer gesagt hat. Sieh mal, du hast mich gefragt, ob Ethan und dieser Bursche gleich seien? Woher soll ich das wissen? Ethan ist morgens immer eine halbe Stunde vor mir aufgestanden und hat frischen Kaffee für uns beide gemahlen. Würde dieser Bursche das tun? Wer weiß?«
»Gibt ’ne Möglichkeit, das rauszufinden«, bemerkte Norton mit Pokerface.
Sevgi entglitt ihr Lächeln. Sie hob warnend einen Finger. »Erwähne das nicht mal!«
»Entschuldigung.« In der Art und Weise, wie er es sagte, lag nicht viel Aufrichtigkeit. Ein Grinsen schwebte in einem Mundwinkel. »Muss runter
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