Skorpion
Die Erwiderung erfolgte automatisch, aber eigentlich wusste sie gar nicht genau, wer näher dran war. Das Gefühl für Zeit war ihr völlig abhanden gekommen. Die Überfahrt über den Bosporus schien Wochen zurück zu liegen. New York und Florida Monate.
Norton schien ebenfalls nicht aufgelegt, die Sache weiter zu verfolgen. Achselzuckend warf er einen Blick auf seine Uhr.
»Tatsache ist, wenn du noch viel länger da bleibst, werden Nicholson und Roth anfangen rumzublaffen.«
Sie grinste. »Deswegen bist du so gereizt! Nun komm schon, Tom! Du kannst doch sonst so gut mit ihnen. Ich habe die Pressekonferenz gesehen. Du hast Meredith und Hanitty wie zwei Grenzdebile behandelt.«
»Meredith und Hanitty sind zwei Grenzdebile, Sev. Das ist der Punkt. Über Nicholson kannst du sagen, was du willst, aber er ist nicht dumm, und er ist unser Boss, und das gilt doppelt für Roth. Sie werden das nicht mehr lange dulden. Nicht ohne weiteren Gewinn als die Ahnungen deines neuen Spielgefährten.« Nortons Blick flackerte über den Bildschirm und durchsuchte den Raum über ihren Schultern. »Wo ist der Wunderknabe übrigens?«
»Schläft…« Sie fing sich. »… vermutlich. Das ist auch hier ’ne ziemlich unsoziale Stunde, weißt du.«
Tatsächlich hatte sie sich beim Läuten des Telefons im Bett herumgewälzt und einen Schauer des Entzückens erfahren, als sie ihn dort massig und schwer neben sich entdeckt hatte. Der Schauer hatte sich in ein ruckartiges Hochfahren verwandelt, als sie auf eine Entfernung von zehn Zentimetern entdeckt hatte, dass er wach war und sie mit weit geöffneten Augen beobachtete. Er nickte zu dem Klingeln hinüber. COLIN-Wohnung, sagte er, könnte mir vorstellen, das ist für dich. Sie nickte ihrerseits, langte über die Seite des Betts nach ihrem T-Shirt und setzte sich auf, um es sich über den Kopf zu streifen. Sie spürte seinen Blick auf ihr liegen, auf den schweren Brüsten, nachdem sie die Bewegung beendet hatte, und es sandte ihr einen weiteren Schauer wohliger Wärme durch den Leib. Das Gefühl blieb, als sie zum Telefon tappte.
»In COLINs Bestrebungen geht die Sonne nie unter«, zitierte Norton mit Pokerface. »Und du musst sowieso früh aufstehen, wenn du nach Peru fährst.«
»Hast du mit Ortiz gesprochen?«
Er wurde ernst. »Ja, früher am Tag heute. Sie haben ihn für etwa zehn Minuten durch ein V-Format geschickt. Länger wollten die Ärzte nicht, sie sagen, dass die mentale Anstrengung das Letzte ist, was er brauchen kann. Sie lassen die organischen Schäden auf Nanobasis reparieren, aber die Kugeln waren verseucht, von irgendwas Karzinogenem, und das bringt das neue Zellwachstum durcheinander.«
»Wird er sterben?«
»Wir alle werden sterben, Sev. Aber davon, nein, wird er nicht. Sie haben ihn stabilisiert. Noch ’n langer Weg nach draußen, aber er wird’s schaffen.«
»Was hat er also gesagt, in der Virtualität?«
Eine Grimasse. »Er hat mir gesagt, ich solle deinen Instinkten vertrauen.«
Sie bekamen ein vormittägliches Suborb nach La Paz – wie die meisten Nationen, die sich der Kolonisierungsinitiative des Westens angeschlossen hatten, unterhielt die Türkei alle paar Stunden eine Verbindung zu den Zentren des Altiplano. Sevgi hatte sie von der COLIN-Limousine an der Tür abholen lassen – diesmal war keine Zeit für die Überfahrt mit der Fähre.
»Wir hätten auf die Direktverbindung nach Lima warten können«, bemerkte Marsalis zu ihr, während sie ungehindert auf der Expressspur zum Flughafen rasten. »Wäre weniger hetzig gewesen. Ich hätte Zeit gehabt, mir diese Klamotten zu kaufen, wegen denen du so rumgezickt hast.«
»Man hat mich angewiesen, mich zu beeilen«, sagte sie zu ihm.
»Ja, aber wie du weißt, besteht eine gute Chance dafür, dass Bambaren sowieso in Lima ist. Er erledigt da unten an der Küste ziemlich viele Geschäfte.«
»In diesem Fall gehen wir dahin.«
»Das wird einige Zeit brauchen.«
Sie lächelte ihn überlegen an. »Nein, wird’s nicht. Du arbeitest jetzt für COLIN. Das ist unser Hinterhof.«
Um diesem Punkt Nachdruck zu verleihen, sorgte sie dafür, dass sie am anderen Ende ein Empfangskomitee erwartete. Drei Indigenas, die nicht lächelten, ein Mann, zwei Frauen, die sie mit abgehärteter, wachsamer Achtsamkeit aus dem Terminal zu einem gepanzerten Landrover brachten, der unter einem harten Licht im Halteverbot auf sie wartete. Dahinter lagen eine weiche Dunkelheit, ein vom Smog verwischter Mond sowie die
Weitere Kostenlose Bücher