Skorpion
Schnauzbart, aber hoch auf den Wangen und dem ausgeprägten Kinn zeigten sich dichte Stoppeln, und er hatte trotz des Alters nicht ein einziges Haar verloren. In seiner Jugend war er wohl ein sehr gut aussehender Mann gewesen, und selbst jetzt – Carl schätzte ihn auf Anfang sechzig –, selbst jetzt auf der beigefarbenen steinernen Bank sitzend und reglos auf die Fontäne starrend, verströmte er eine ruhige, charismatische Autorität. Er trug einen einfachen dunklen Anzug, dazu passend ein dickes wollenes Hemd, und zeigte purpurfarbene Ringe der Müdigkeit unter den Augen.
»Sie sind Carl Marsalis«, sagte er, als Carl die Bank erreichte. Die Bemerkung hatte nichts Fragendes an sich, die Stimme war ein wenig heiser, darunter jedoch fest wie Eisen. Wenn er geweint hatte, hielt er es gut verborgen.
»Ja, das bin ich.«
»Ich bin Murat Ertekin. Sevgis Vater. Bitte, setzen Sie sich zu mir.« Er zeigte auf den leeren Platz neben sich auf der Bank, wartete, bis Carl sich gesetzt hatte. »Meine Tochter hat mir viel von Ihnen erzählt.«
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, ein wenig genauer zu werden?«
Ertekin warf ihm einen Blick von der Seite zu. »Sie hat mir gesagt, dass man sich Ihre Loyalität nicht leicht erkaufen kann.«
Das schloss ihm den Mund. Die allgemeine Ansicht über die Variante Dreizehn war, dass sie über das Eigeninteresse hinaus überhaupt keine Loyalitäten hatte. Er überlegte, ob Ertekin Sevgi direkt zitierte oder sein eigenes Verständnis ihrer Worte hinzufügte.
»Hat sie Ihnen gesagt, was ich bin?«
»Ja.« Ein weiterer Blick von der Seite. »Haben Sie Missfallen meinerseits erwartet? Hass vielleicht, oder Furcht? Die üblichen Vorurteile?«
»Ich kenne Sie nicht«, erwiderte Carl gleichmütig. »Abgesehen von der Tatsache, dass Sie beide nicht gut miteinander ausgekommen sind und dass Sie die Türkei aus politischen Gründen verlassen haben, hat mir Sevgi überhaupt nichts von Ihnen erzählt. Ich kenne Ihre Haltung meiner Art gegenüber nicht. Obwohl mein Eindruck der ist, dass Sie nicht allzu glücklich über Sevgis letzte Unbedachtheit bei der Variante Dreizehn waren.«
Ertekin saß stocksteif da. Dann sackte er in sich zusammen. Er schloss die Augen, fest, und öffnete sie wieder, um sich der Welt zu stellen.
»Ich bin schuld«, sagte er leise. »Ich habe bei ihr versagt. Unser ganzes gemeinsames Leben lang habe ich Sevgi dazu ermuntert, die Grenzen weiter hinauszuschieben. Und dann, als sie sie schließlich für meinen Geschmack zu weit hinausgeschoben hatte, habe ich wie ein Dorf-Mullah reagiert, der in seinem ganzen Leben nie die Bosporus-Brücke gesehen hat und sie auch nicht sehen will. Ich habe genau wie mein verdammter Bruder reagiert.«
»Ihr Bruder ist ein Mullah?«
Murat Ertekin lachte bitter. »Ein Mullah, nein. Obwohl er vielleicht seine Berufung verfehlt hat, als er das weltliche Recht zum Beruf erwählte. Man hat mir gesagt, er sei nie mehr als ein durchschnittlicher Anwalt gewesen. Aber ein selbstgerechter, bewusst ignoranter männlicher Überlegenheitsfanatiker? Oh, ja. Darin war Bulent immer ausgezeichnet.«
»Sie sprechen in der Vergangenheit von ihm. Ist er tot?«
»Für mich ja.«
Bei dieser Feststellung kam das Gespräch abrupt zum Stocken. Eine Weile lang saßen beide da und starrten ins Leere. Murat Ertekin seufzte. Er sprach, als höbe er Teile von etwas Zerbrochenem auf, als wäre jedes Hinabbeugen, um ein Fragment der Vergangenheit heraufzuholen, eine Anstrengung, die ihn schwer atmen ließ.
»Sie müssen verstehen, Mr Marsalis, dass meine Ehe nicht erfolgreich war. Ich habe jung geheiratet und in Eile, und zwar eine Frau, die ihren Glauben allerdings sehr ernst nahm. Als wir beide noch Medizin in Istanbul studierten, habe ich jenen Glauben mit genereller Stärke verwechselt, aber ich hatte mich geirrt. Nach unserem Umzug nach Amerika, das es damals noch gab, konnte sich Hatun nicht eingewöhnen. Sie hatte Heimweh, und New York erschreckte sie. Sie hat sich nie angepasst. Wir hatten Sevgi, weil einem zu jenen Zeiten gesagt wurde, dass einen ein Kind wieder zusammenbringen würde.« Eine Grimasse. »Es ist eine merkwürdige Sache des Glaubens – dass schlaflose Nächte, kein Sex, wenig Einkommen und der beständige Stress, sich um ein hilfloses neues Leben kümmern zu müssen, irgendwie den Druck kompensieren soll, unter dem eine Beziehung sowieso schon steht.«
Carl zuckte mit den Achseln. »Die Menschen glauben seltsame Dinge.«
»Nun, in
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