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Skorpion

Skorpion

Titel: Skorpion Kostenlos Bücher Online Lesen
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geglaubt. Er hatte mit ausdruckslosem Gesicht dagesessen, wie er es jetzt im Krankenhaus tat, hatte in Kursen, in denen er zuvor geglänzt hatte, stundenlang wie losgelöst ins Leere gestarrt. Er hatte die Bestrafung der Onkel in Form von Schlägen mit einem stoischen Mangel an Reaktion entgegengenommen, die an der Grenze zur Katatonie gelegen hatte – zurückschlagen hätte ihm nichts eingebracht, wie er damals genau gewusst hatte, dann hätte er nur noch mehr Schläge erhalten. Tante Chitras Schmerzbeherrschungstraining war gerade rechtzeitig gekommen.
    Viele Jahre später fragte er sich, ob dieser spezielle Kurs nicht absichtlich auf dem Stundenplan für die Monate stand, die der Entfernung der Ersatzmütter vorausgingen. In Osprey 18 geschah nicht viel ohne sorgfältig überlegte Planung. Und Schmerz kam, wie Chitra gleich zu Beginn des Kurses erzählte, in vielerlei Form vor. Schmerz ist unvermeidbar. Sanft lächelte sie die Gruppe an, als sie jedem formell die Hand schüttelte. Sie war so etwas wie eine unbekannte Größe nach ihren anderen Lehrern, diese kleine Frau mit den falkenartigen Zügen, einer Haut gleich einer vom Feuer angesengten Kupferlegierung und kurz geschorenem schwarzem Haar. Einer Statur, die den vorpubertären Hormonen undeutlich verstandene Signale sandte, dazu trockene, schwielige Hände, die eben jenen Hormonen genau mitteilten, dass sie sich in ihrer Umgebung besser benähmen. Ihr Griff war fest, ihr Blick direkt und abschätzend. Schmerz ist rings um uns herum, er nimmt vielerlei Gestalt an. Meine Aufgabe wird es sein, euch zu lehren, wie man all diese Formen erkennt, sie versteht und wie man sich dadurch nicht vom eigenen Ziel ablenken lässt. Carl hatte diese Lektionen gut gelernt. Er ging mit der sorgfältig von den Onkeln eingesetzten Brutalität genauso um, als handele es sich dabei um eines von Chitras Arbeitsbeispielen. Er wusste, dass sie ihm keinen dauerhaften Schaden zufügen konnten, weil allen Kindern in Osprey 18 gesagt worden war, und zwar immer und immer wieder, wie wertvoll sie seien. Er wusste auch, dass es den Onkeln lieber gewesen wäre, keine körperliche Gewalt in diesem Ausmaß anwenden zu müssen. Es war in Osprey nie die bevorzugte Methode der Disziplinierung gewesen und wurde nur eingesetzt, um schwere Verstöße gegen Respekt und Gehorsam zu ahnden, und dann auch nur als letztes Mittel. Aber jede andere Strafarbeit, die sie Carl in dieser Woche auferlegten, weigerte er sich schlicht auszuführen. Schlimmer noch, er fauchte ihnen seine Weigerung ins Gesicht, er genoss es, als der Ungehorsam ebenso an ihm zerrte wie der Schmerz, wenn er sich beim Laufen oder der Ersteigung eines Felsens antrieb. Und wenn er die sorgfältig bemessene Prügelstrafe erhielt, nahm er sie an, streifte sich achselzuckend Chitras Training über wie einen Harnisch und stellte sich den Onkeln mit einer nackten Wut, der sie nichts entgegenzusetzen hatten.
    Am Ende war es Chitra, die seinen Bemühungen ein Ende setzte, genauso, wie sie ihm das geschenkt hatte, was er brauchte, um sie auflaufen zu lassen. Eines grauen Nachmittags kam sie zu ihm, als er zerschlagen und aus dem Mund blutend dasaß, den schmerzenden Rücken gegen einen Lagerschuppen in der Nähe des Hubschrauberlandeplatzes gedrückt. Eine Weile lang stand sie wortlos da, dann trat sie direkt in sein Sichtfeld, die Hände in ihren Overalltaschen. Er lehnte sich zur Seite und wollte um sie herum sehen, aber es war zu schmerzhaft, diese Position beizubehalten. Sie rührte sich nicht.
    Am Ende musste er zu ihr aufschauen.
    Was willst du damit erreichen, Carl?, fragte sie ihn ruhig. Weder im Tonfall noch im Gesichtsausdruck lag ein Werturteil, nur echte Neugier. Ich verstehe deinen Schmerz, ich erkenne, wie du versucht hast, ihn nach außen zu tragen. Aber was willst du damit erreichen?
    Er gab keine Antwort. Während er ihren Blick erwiderte, glaubte er, sie erwarte im Grunde auch keine Antwort von ihm. Aber nachdem sie gegangen war, begriff er – gestattete er sich zu begreifen –, dass Marisol wirklich nicht zurückkommen würde, dass die Onkel die Wahrheit sagten und dass er sowohl seine als auch ihre Zeit vergeudete.
     
    Das Warten bei Sevgi war anders. Er hatte sie hier bei sich. Er wollte etwas erreichen.
    Er würde sie trotzdem verlieren, verdammt und verflucht!
     
    Er traf ihren Vater in den Gärten, einen großen, grauhaarigen Türken mit mächtigen Schultern und denselben Tigeraugen wie seine Tochter. Er trug keinen

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