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Skorpion

Skorpion

Titel: Skorpion Kostenlos Bücher Online Lesen
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noch nicht bereit.«
    »Im V-Format zu bleiben wird dein Nervensystem ganz schön strapazieren. Dich ganz schön unter Stress setzen.«
    Sevgi schnaubte. »Hast du aber eine Ahnung, verdammt! Möchtest du wissen, worin die Strapaze besteht? Ich werd’s dir sagen. Eine Strapaze ist es, dort in diesem verfluchten Bett zu liegen, die Decke anzustarren und den Maschinen zuzuhören, an die sie mich gehängt haben, zu spüren, wie meine Lungen verklumpen, und all die Nadeln zu spüren, die sie in mich hineingesteckt haben. Dass es mir überall und am ganzen Leib wehtut und dass ich mich nicht rühren kann, bis jemand kommt und das für mich erledigt. Verglichen damit«, sie gestikulierte schwach zum Garten hinüber, »ist dies das verdammte Paradies.«
    Eine Weile lang sah sie schweigend die herabhängenden Zweige an.
    »Sie sagen, es sei ein Garten«, murmelte sie. »Das Paradies, weißt du. Ein Garten voller Früchte und dem Geräusch von Wasser.«
    »Und Jungfrauen. Stimmt’s? Für jeden siebzig Jungfrauen oder so?«
    »Nicht, wenn du eine Frau bist. Außerdem sind die sowieso bloß für Märtyrer.« Sie verzog das Gesicht. »Außerdem ist das ein Haufen Scheißdreck. Einfach gestrickte, post-koranische, öde islamistische Propaganda. Niemand in der muslimischen Welt, der auch nur zwei Gehirnzellen hat, glaubt noch an diesen Scheiß. Und wer will überhaupt eine verdammte Jungfrau? Du musst denen doch alles beibringen! Das ist wie Sex mit einem verdammten Schaufenstermannequin, dessen Bewegungsstromkreise einen Kurzen haben.«
    »Das hört sich an, als sprächest du aus Erfahrung.« Froh um die Gelegenheit, stürzte er sich auf den Themenwechsel.
    Was ihr ein schräges Lächeln entlockte. »Zu meiner Zeit habe ich mal ein oder zwei eingearbeitet. Und du?«
    »Nicht, dass ich wüsste.«
    »Nicht sehr sozial gesinnt von dir. Jemand muss das tun.«
    Er zuckte mit den Schultern. »Na ja, weißt du, vielleicht erledige ich meinen Anteil da draußen etwas später im Leben.«
    Ihr Lächeln wurde dünner, verblasste bei der Erwähnung der Zukunft, als zöge eine Wolke über den sonnenerhellten Rasen. Sie zitterte und kauerte sich ein wenig mehr in ihrem Stuhl zusammen. Er verfluchte sich für den Versprecher.
    »Irgendwo habe ich gelesen«, sagte sie ruhig, »dass sie damit rechnen, in weiteren dreißig oder vierzig Jahren die V-Formatierung so mächtig hinbekommen zu haben, dass man darin leben kann. Weißt du, der N-Dschinn kopiert deinen ganzen Bewusstseinszustand in das Konstrukt und lässt dich als Teil des Systems laufen. Man betäubt einfach den Leib und tritt hindurch. Sie sagen, du wärest sogar in der Lage, weiter dort zu leben, nachdem dein Körper richtig gestorben ist. In vierzig Jahren, sagen sie, vielleicht nicht mal so lange.« Sie grinste verzweifelt. »Bisschen spät für mich, oder?«
    »He, du wirst diesen Scheiß nicht nötig haben.« Verzweifelter Kampf um eine Antwort. »Du gehst in den Himmel, nicht wahr? Ins Paradies, wie du gesagt hast.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube wohl nicht wirklich ans Paradies, Carl. Wenn du die Wahrheit wissen willst, so glaube ich, dass in Wirklichkeit keiner von uns daran glaubt. Tief im Innern, da, wo es zählt, da wissen wir wohl alle, dass das bloß ein Haufen Scheißdreck ist. Deswegen sind wir alle so wild entschlossen, die frohe Botschaft zu verbreiten, sie anderen Leuten in den Hals zu stopfen. Denn wenn wir andere Leute nicht dazu bringen, daran zu glauben, wie werden wir dann den Zweifel in uns selbst unterdrücken? Und er ist kalt, dieser Zweifel.« Sie sah ihn an und zitterte, als sie die Worte sprach. Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Wie November im Park, weißt du. Wie der nahende Winter.«
    Er stand auf und ging zu ihr hinüber und versuchte, sie zu halten, so gut er es konnte, ein stumpfes Gefühl, wie mit Handschuhen, wie eine Faust voll zerdrücktem Samt, wie etwas Unwirkliches. Kein Gefühl von Wärme, aber als sie erneut zitterte, zog er sie trotzdem an sich, und er hielt ihren Kopf an seiner Brust, damit sie nicht sah, wie fest er die Zähne aufeinandergepresst hatte und wie sehr sein Mund ein wilder, nach unten verzogener Strich geworden war.
    Wie der nahende Winter.

 
47
     
     
    Sevgi lebte noch vier weitere Tage.
    Es waren die längsten Tage, soweit er zurückdenken konnte, seit der Woche, die er auf Marisol gewartet hatte, denn damals hatte er entgegen allem, was die Onkel ihm erzählten, irgendwie doch an ihre Rückkehr

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