Skorpion
unserem Fall hat es nicht funktioniert. Meine Arbeit hat gelitten, wir haben uns mehr gestritten, und Hatuns Furcht vor der Stadt wuchs. Sie zog sich in ihren Glauben zurück. Sie war bereits mit Kopftuch auf die Straßen gegangen, doch dann trug sie immer mehr den vollen Tschador. Sie wollte keine Gäste im Haus empfangen, bevor sie völlig bedeckt war, und natürlich hatte sie bereits für Sevgi ihre Arbeit aufgeben müssen. Sie sonderte sich von ihren früheren Freunden und Kollegen im Krankenhaus ab, enttäuschte deren Versuche, in Kontakt zu bleiben, wechselte schließlich die Moschee und ging zu einer, die irgendwelchen antiquierten Wahhabi-Unsinn predigte. Sevgi zog es immer mehr zu mir. Ich glaube, das ist sowieso natürlich bei kleinen Mädchen, aber hier war es nackte Selbstverteidigung. Was sollte Sevgi mit ihrer Mutter anfangen? Sie war als New Yorker Straßenkind aufgewachsen, zweisprachig und klug, und Hatun wollte, dass sie nicht einmal Schwimmunterricht mit Jungens zusammen hatte.«
Ertekin starrte auf seine Hände hinab.
»Ich habe die Rebellion ermutigt«, sagte er leise. »Ich hasste es, wie Hatun sich veränderte, vielleicht hasste ich damals Hatun sogar selbst. Sie fing an, meine Arbeit zu kritisieren, nannte sie unislamisch, sie brüskierte unsere liberalen muslimischen oder ungläubigen Freunde, wurde von Jahr zu Jahr immer rigoroser in ihrer Haltung. Ich war entschlossen, dass Sevgi nicht auf diese Weise enden sollte. Es entzückte mich, als sie anfing, ihrer Mutter jene einfachen Kinderfragen nach Gott zu stellen, auf die niemand eine Antwort geben kann. Ich war hoch erfreut, als sie stark, entschlossen und schlau angesichts Hatuns hohler, auswendig gelernter Dogmen blieb. Ich stachelte sie an, drängte sie, es darauf ankommen zu lassen und erfolgreich zu sein, und ich verteidigte sie gegen ihre Mutter, wann immer die beiden zusammenprallten – selbst wenn sie sich irrte und Hatun recht hatte. Und als die Dinge schließlich unerträglich wurden und Hatun uns verließ und heimkehrte – da war ich, glaube ich, froh.«
»Weiß ihre Mutter, was geschehen ist?«
Ertekin schüttelte den Kopf. »Wir haben keinen Kontakt mehr, weder Sevgi noch ich. Hatun hat nur angerufen, um uns beide zu beschimpfen oder Sevgi davon zu überzeugen, in die Türkei zurückzukehren. Sevgi nahm ihre Anrufe nicht mehr entgegen, seitdem sie fünfzehn war. Selbst jetzt hat sie mich gebeten, nichts ihrer Mutter zu sagen. Ist vermutlich auch besser so. Hatun käme nicht, oder wenn sie käme, würde sie eine Szene machen, jammern und das Gericht auf uns alle herabrufen.«
Beim Wort Gericht durchfuhr es Carl wie eine gespannte Saite.
»Sie sind kein religiöser Mann, nicht wahr?«, fragte ihn Ertekin.
Es war fast ein Grinsen wert. »Ich bin ein Dreizehner.«
»Und damit genetisch dazu außerstande.« Ertekin nickte. »Allgemeinwissen. Glauben Sie daran?«
»Gibt es eine andere Erklärung?«
»Als ich jünger war, waren wir weniger angetan von genetischen Einflüssen als Faktor. Mein Großvater war Kommunist.« Ein listiger Blick. »Wissen Sie, was das ist?«
»Habe davon gelesen, ja.«
»Er glaubte, dass man aus einem Menschen alles machen könne, was man wollte. Dass Menschen werden könnten, was ihnen beliebte. Dass die Umgebung alles sei. Ist nicht mehr groß in Mode, diese Sicht der Dinge.«
»Das ist so, weil sie nachweislich fälsch ist.«
»Und dennoch sind Sie – jede Variante Dreizehn, überall – gründlich von der Umgebung konditioniert worden. Sie trauten Ihren Genen nicht, dass die ihnen die gewünschten Soldaten liefern würden. Sie wurden von der Wiege an dazu erzogen, Brutalität als Tatsache des Lebens zu sehen.«
Carl dachte an Sevgi, an die Röhren und Nadeln und die welkende Hoffnung. »Brutalität ist eine verdammte Tatsache des Lebens. Ist Ihnen das nicht aufgefallen?«
Ertekin rückte auf der Bank näher an ihn heran. Carl spürte, dass der andere Mann nahe daran war, seine Hände in die eigenen zu nehmen.
Nach etwas greifen.
»Glauben Sie wirklich, dass Sie dies geworden wären, dass Sie genetisch dafür bestimmt waren, auch wenn Sie als Kind ganz anders erzogen worden wären?«
Carl vollführte eine Geste der Ungeduld. »Was ich glaube, ist unwichtig. Ich bin das geworden, das Wie ist akademisch. Sollen die Akademiker sich doch des Langen und Breiten darüber auslassen, ihre Artikel schreiben und veröffentlichen und fürs Abquälen bezahlt werden. Letztlich betrifft mich davon
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