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Skorpion

Skorpion

Titel: Skorpion Kostenlos Bücher Online Lesen
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warten.
     
    »Sie müssen das nicht tun«, sagte Norton zu ihm.
    Carl ging an ihm vorbei um den Tisch und begutachtete die Stoßwinkel. »Doch, muss ich.«
    »Das wird sie nicht zurückholen.«
    Er vollführte einen langen Stoß entlang der Seitenbande. »Ich glaube, das Argument hatten wir bereits.«
    »Um Gottes willen, ich debattiere nicht mit Ihnen, Marsalis. Ich versuche, Sie einen Sinn darin sehen zu lassen, vielleicht Sie daran zu hindern, da unten Ihr Leben wegzuwerfen. Sehen Sie mal, am Samstag ist Sevgis Beerdigung. Ich kann Sie durch die Einwanderungsleute der Union bringen und Ihnen für diese Zeit die Polizei vom Hals halten. Warum kommen Sie nicht mit?«
    »Weil sie das, soweit ich erkennen kann, auch nicht mehr zurückbringt.«
    Norton seufzte. »Das hätte sie nicht gewollt, Marsalis.«
    »Norton, Sie haben nicht die blasseste Ahnung, was Sevgi gewollt hätte, verdammt!« Er ließ die Kugel rollen, nahm den Winkel zu knapp und sah zu, wie die Zielkugel in die Bande stieß, weit entfernt vom Loch. »Und ich auch nicht.«
    »Warum gehen Sie dann da runter?«
    »Weil mir mal jemand gesagt hat, der Schlüssel zum Leben bestünde darin, mit dem zu leben, was man getan hat, bestünde einzig und allein darin, nur die Dinge zu tun, mit denen man glücklich leben kann. Und ich kann nicht damit leben, dass Sevgi tot ist und Onbekend immer noch herumläuft.«
    Carl stützte sich mit weit ausgebreiteten Armen auf die Tischkante und nickte zu den wild durcheinander liegenden Kugeln hinüber.
    »Sie sind dran!«, sagte er. »Sehen Sie mal, was Sie daraus machen können!«

 
54
     
     
    Die Wirkung der Schmerztabletten setzte rasch ein, und sie verursachten ihm zunächst eine leichte Übelkeit, gefolgt von einem vagen Gefühl des Wohlbefindens, auf das er wahrscheinlich gut und gern hätte verzichten können. Er strich im Erdgeschoss der Behausung herum, maß Schusswinkel aus und dachte halbherzig über Wehrhaftigkeit nach. Er spielte mit dem Stapel Waffen auf der Frühstückstheke, brachte dafür letztlich jedoch auch nicht viel Interesse auf. Etwas stand dem entgegen.
    Er entdeckte eine Stelle, wo er sich hinsetzen und hinaussehen konnte, durch den Cañon hindurch bis zu den hoch aufragenden Bergen, von denen er umgeben war. Das Sonnenlicht stach wie ein Messer über den Gebirgskamm und ließ die Luft erglänzen, sodass alles leicht irreal wirkte. Als hätte sie darauf die ganze Zeit über gewartet, betrat Sevgi Ertekin seine Gedanken.
    Es war dasselbe Gefühl. Genauso hatte er sie gespürt, als er das Licht über den Hügeln von Marin hatte schwinden sehen, und wiederum, als er die Schluchten von Manhattan über die Brooklyn Bridge verlassen hatte. Er ließ die Empfindung durch sich hindurchrinnen, und damit einher ging ein schleichendes Gefühl der Anspannung. Die bewussten Gedanken holten die unbestimmten ein, wie es bei Gray gewesen war. Vielleicht war es das Kodein, das irgendwo über einen synaptischen Schalter gestolpert war, der dem Verständnis jetzt Zugang gewährte. Sevgi war dahin. Sein Gehirn war darauf gepolt, diese Tatsache erfolgreich zu verarbeiten. Aber sie war nicht tot. Denn die uralten Gene seiner Vorfahren aus Afrika würden damit einfach nicht kalkulieren. Menschen hörten nicht einfach so auf zu existieren, sie verschwanden nicht einfach so in der verdammten dünnen Luft. Wenn Menschen verschwunden sind, beharrte irgendein tief einprogrammierter Teil seines Bewusstseins, ist das deshalb so, weil sie anderswo sind, nicht wahr? Also ist Sevgi verschwunden. Schön. Wohin sie aber verschwunden ist, das müssen wir herausfinden, weil wir dann dorthin gehen und sie finden, bei ihr sein und schließlich den verdammten Schmerz loswerden können.
    Also.
    Diese Hügel, die dort drüben auf der anderen Seite der Bay in der Dunkelheit ersterben – glaubst du, sie könnte da sein? Oder inmitten des Glases und Stahls auf der anderen Seite der Brücke, vielleicht? Oder, okay, vielleicht oben auf diesem verdammten Cañon und drüben auf der anderen Seite dieser Berge dort. Vielleicht ist sie da. Oben hinter dem glänzenden, unwirklichen Licht, oben in der dünnen Luft, und sie wartet da auf dich.
    Zum ersten Mal im Leben erkannte er, warum es Wiederkäuern so schwer fiel, nicht an ein Leben nach dem Tod zu glauben, an einen anderen Ort, wohin man ging, wenn man von hier verschwunden war.
    Und dann, als er seine eigene Polung überwand, als die Einsicht kam, schmolz das Gefühl dahin, dass sie gekommen

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