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Skorpionin: Odenwal - Thriller (German Edition)

Skorpionin: Odenwal - Thriller (German Edition)

Titel: Skorpionin: Odenwal - Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Krämer
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schüttelte den Kopf. Der Blick, den Kriminalrat Dr. Obst ihnen zugeworfen hatte, war ungefähr so Gentleman-like wie der eines Berggorillas mit Zahnweh.

    Lieber Papa
    Tom ist wirklich lustig. Jeden Abend bringt er mich ins Bett und erzählt mir eine neue Geschichte. Meistens von Mäusen und Prinzessinnen. Er spielt auch gerne Verstecken. Wenn er mich findet, darf er mich kitzeln und wenn ich ihn finde, dann darf ich ihn kitzeln. Wir schreien dann immer so laut, dass die Mama schimpft. Einmal haben wir uns alle beide vor Mama versteckt. Sie war einkaufen und wir wollten sie erschrecken, wenn sie heimkommt. Wir haben uns in Mamas Ankleidezimmer ein tolles Lager aus vielen Decken gebaut und ganz lange auf sie gewartet. Wir haben das Licht ausgemacht und Tom hat die ganze Zeit Gespenstergeschichten erzählt. Bei manchen habe ich beinahe Angst gehabt. Aber nur fast. Dann habe ich mich an ihn gekuschelt und er hat mich ganz fest gehalten. Da kann mir niemand etwas tun, hat Tom gesagt. Ich bin froh, dass er so groß und stark ist. Er hat sogar unser La-Le-Lu Lied gelernt, das Du mir immer vorgesungen hast. Er singt aber nicht so schön und auf Englisch kann er das gar nicht. Trotzdem ist er mein zweitbester lieber guter Freund. Der beste bist immer noch Du. Deine Cap. La-Le-Lu
.

    Eva Kottke knipste die Leselampe ihres riesigen Polsterbettes an und griff nach dem kleinen roten Etui. Sie klappte es auf und betrachtete das verblasste Foto mit feuchten Augen. Die Leuchtziffern ihres Weckers wechselten lautlos von 02:44 zu 02:45 Uhr. Wie oft hatte sie in dieser Nacht schon das winzige Bild betrachtet? Zehn Mal? Zwanzig Mal? Hundert Mal?
    Mit einem Seufzer löschte sie den Halogenspot und sank in ihr Kissen zurück. Das Etui ruhte noch immer in ihrer Hand. Sie schloss die Augen und ein Lächeln kräuselte ihre Lippen. Sie brauchte kein Licht. Ihr Gehirn projizierte das Porträt des kleinen Mädchens überlebensgroß an die dunkle Decke des Zimmers. Paula. Ein schöner Name. Altmodisch und gerade deshalb wieder häufiger gewählt. Sehnsucht nach der sogenannten guten alten Zeit? Wann soll das denn gewesen sein? Eva konnte sich nicht erinnern. Kurze Sequenzen voller Glück und Frieden hatte auch sie erlebt. Zeiten, von denen man sich wünschte, sie würden nie vorbeigehen, und die doch abrupt und schmerzvoll endeten, so dass sie in der Rückschau zu Augenblicken schrumpften.
    Gleich heute würde sie Paula und ihre Mutter besuchen. Ihre Mutter. Schmerzlich wurde sie wieder daran erinnert, dass die Kleine nicht ihr Kind war. Ein Abbild nur. Frappierend zwar, doch eben nur eine verstörende Ähnlichkeit.
    Die Frau, die sich Eva Kottke nannte, weinte lautlos. Ihre Tochter war tot. Seit Jahren schon. Seit Jahren befand sie sich auf einer Suche, von der sie wusste, dass sie niemals erfolgreich sein würde..
    Sie würde Paula besuchen. Gleich heute. Termine hin oder her. 03:16 Uhr. Wann wurde es, verdammt noch mal, endlich Tag? Heute war der Tag der Entscheidung. Die billige Handtasche wog schwer. Heute Mittag würde sie wieder eine Tochter haben. Sie war bereit, den Preis zu zahlen. Koste es, was es wolle.
    Sie würde dieses kleine Mädchen zu einem Abbild ihrer selbst machen. Ein Klon. So wie ihr totes Mädchen ein Klon von ihr gewesen war. Bis ein grausames Schicksal sie ihr weggenommen hatte. Als es sie bei der Geburt fast zerrissen hatte vor Schmerzen, hatte sie geweint. Geschrien, gebrüllt und geweint. Vor Glück. Endlich war es soweit, endlich hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie würde weiterleben. Im Körper dieses kleinen runzligen, verklebten Würmchens würde sie weiterleben, auch wenn ihr eigener Körper längst zu Staub und Asche geworden wäre. Das war ihr Trachten und Streben, seit sich eine voreilige Krebsdiagnose als Nierenbeckenentzündung entpuppt hatte. Seit damals wusste sie, was Todesangst ist. Was es heißt, wenn diese weit entfernte, unwirklich nebulöse Vorstellung, sterben zu müssen, plötzlich in greifbare Nähe rückt. Wenn Ärzte diesen merkwürdigen Blick bekamen, wenn Freunde und Bekannte die Stimmen senkten, wenn sie in der Nähe war. Wenn das Leben sich zu Monaten, Wochen, Tagen zusammenknautscht und zwischen den Fingern zerrinnt wie Korallensand. Sie wollte etwas besitzen, das sie überlebte. Etwas, das sie nach ihrem eigenen Bilde formen und gestalten konnte, gerade so, als sei sie eine Göttin. Es war nicht die natürliche Sehnsucht nach einem Kind, wie sie Millionen Frauen miteinander teilten, nein.

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