Skorpionin: Odenwal - Thriller (German Edition)
Blicke der Männer, die an der Ampel neben ihr standen.
Die Schmidts hatte sie fortgeschickt. Das ältere Paar bewohnte die umgebaute Remise des Jagdschlosses und kümmerte sich um das pittoreske Sandsteingemäuer im Tudorstil. Heute nicht. Heute war ein besonderer Tag. Sie fuhr in den Odenwald, um sich zu versöhnen mit diesem Gebäude, das so viele schöne Erinnerungen barg. Erinnerungen an heitere Zeiten voller Harmonie. An idyllisches Familienleben, Geborgenheit vor dem prasselnden Kamin und den Duft von Weihnachtsplätzchen.
Bis der Tod sein schwarzes Tuch darüber warf. Sie hatte gekämpft. Hatte die dunkle Decke zerrissen und hatte den Schatten endlich verjagt. Bis er ein weiteres Mal erschien, sie niederwarf und ihr die Luft zum Atmen nahm. Damals hatte sie aufgegeben. War geflohen und nur ganz selten hatte sie dem Schloss einen Besuch abgestattet, um Formalitäten zu klären, die Möbel abzuhängen und um einige Stunden im Zimmer ihrer Tochter zu sitzen und deren ruhigem Atem zu lauschen. Schlaf gut, mein kleines Mädchen, schlaf gut.
Die amorphe Masse aus Blut und Knochensplittern auf der Edelstahlbahre, die sie hatte anschauen müssen, tauchte dann immer wieder vor ihrem inneren Auge auf. Dann floh sie wieder. Raste wie besessen die kurvenreiche Strecke hinunter. Im Rückspiegel glotzte sie das eine Auge an und die Zähne grinsten durch die fehlende Wange. Das war sie nicht! Konnte es nie gewesen sein. Sie war doch so schön! Ihr kleines Mädchen.
Doch nun würde sie wiederkommen. Wie im Rausch jagte sie den Wagen über die A656. Die meisten Autos räumten respektvoll die linke Spur vor dem nachtschwarzen Geschoss mit dem Bulldoggengesicht. Die Laster huschten als unscharfe Schatten rechts vorbei wie eine rückwärts fliehende Büffelherde. In Heidelberg endete die Autobahn, wurde zur B37. Sie bog links ab und musste das Tempo drosseln. Summend glitt der Wagen am Neckarufer entlang. Klassische Musik perlte aus den Lautsprechern. Die Morgensonne ließ die letzten zerfaserten Nachtwolken golden aufleuchten, die Landschaft atmete den Regen der vergangenen Stunden wieder aus. Eine berückende Klarheit lag in der Luft. Eher verstärkt als gedämpft durch die vereinzelten Nebelschwaden über dem Fluss. Die Frau fuhr nun in einer Kolonne aus PKWs und Bussen voller übermüdeter Japaner hinter einem langsam fahrenden Holztransporter her. Sie öffnete das Seitenfenster und sog die frische würzige Luft tief in sich hinein. ‚Paula’, dachte sie und in ihrem Herzen strömte ein warmer, samtweicher Quell. ‚Paula, ich schaffe dir ein Paradies. Du und ich. Nur wir beide. Kein Fürst, kein Engel, kein Gott kann es schöner haben.’
Bei Eberbach verließ sie die stark befahrene Bundesstraße. Automatisch steuerten ihre Hände den schwarzen Bentley durch die schmucke kleine Stadt. Nachdem sie Eberbach hinter sich gelassen hatte, folgte sie der schmalen gewundenen Landstraße entlang der Bahnlinie und durch zwei kleine Dörfer bis rechts die Straße nach Schlossau abzweigte. Links verlor sich eine in der Abendsonne nass glänzende Privatstraße in sanften Bögen zwischen den düsteren Fichten. „Privatweg - Durchfahrt verboten - Forstwirtschaft und Radfahrer frei“; stand auf einer verbogenen Blechtafel unter dem großen rot-weißen Sperrschild.
Eine Straße nach nirgendwo. Interessant nur für die Fahrer der Langholzlaster, für Wanderer, Jäger und Mountainbiker. Die Frau stoppte den Wagen schließlich vor einer rotweißen Schranke. Sie stieg aus, streckte sich und drehte sich langsam einmal im Kreis. Stille. Nur begleitet vom leisen Rauschen des Windes in den Kronen der mächtigen Bäume und dem Gesang der Vögel. Ruhe. Der Hauptgrund, warum sie damals, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, genau dies gesucht hatte. Sie kramte einen Schlüsselbund aus ihrer Handtasche und öffnete das Vorhängeschloss der Schranke. Sie arretierte die Schranke, fuhr den Wagen vorbei, stoppte, stieg wieder aus und schloss sie wieder. Die folgenden acht Kilometer gehörten ihr allein. Buchstäblich. Die Wälder ringsum gehörten alle zum Schloss. Im schönsten Tal des Odenwaldes entstand 1828 bis 1873 unter der Führung des anglophilen Fürsten Walther zu Hambach die romantische Anlage des heutigen Schlosses in einer dem englischen Tudorstil nachempfundenen Architektur. Der exzentrische Adelige nannte es in selbstverliebter Namensspielerei Waltham-House 2 , was sich bis zum heutigen Tage gehalten hat. Der letzte Nachkomme derer
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