Skorpionin: Odenwal - Thriller (German Edition)
Türmchen und Erkern verzierten Gebäude etwas Düsteres an. Jeder Hollywoodregisseur hätte es mit Begeisterung als Set für drittklassige Vampir- oder Splatterfilme vermerkt. Nicht so für die Frau mit dem Bentley. Für sie war es nun endlich wieder ein Heim. Ein Zuhause für sich und ihre Tochter. Mit klopfendem Herzen betrat sie die riesige Eingangshalle. Die Schmidts hatten die Heizung von Frostschutz auf Zimmertemperatur eingestellt. Trotzdem roch es noch etwas muffig. Die wuchtigen Möbel waren mit Tüchern verhängt, die geschwungene Freitreppe in die oberen Stockwerke verschwand fast im grünlichen Dämmerlicht. Die Frau zog die Vorhänge auf und gleißende Lichtbahnen ließen den Staub zu flirrenden Partikeln werden. Durch die deckenhohen Sprossenfenster leuchtete der Tag herein. Ein goldener, sonniger Tag. Ein Tag für eine Prinzessin. Ihr kleines Mädchen wollte doch immer eine sein. Eine richtige. Die in einem Schloss wohnt und eine silberne Krone trägt. Paula … Dies soll dein Reich sein. Die Frau ging durch die Halle in Richtung Küche. Lächelnd bemerkte sie den Rührkuchen unter der Abdeckhaube. Daneben ein Zettel: Kaffee ist in der Kanne. Der Kühlschrank ist gefüllt. Ergebenste Grüße, Elfriede Schmidt. Ergebenste Grüße … Das ließ sich die gute Seele nicht nehmen. ‚Gnädige Frau’ auch nicht, obwohl sie ihr schon so oft gesagt hatte, das ihr diese Anrede nur peinlich sei.
Sie verließ die Küche, warf einen Blick in den kleinen Salon, der als Fernsehzimmer diente, in ihr Arbeitszimmer, in die Putzkammer. Dann gab es nichts mehr hier unten. Sie stand vor der Treppe. Ihr Atem ging flach. Es war doch ganz einfach. Ein paar Stufen, drei Türen … wenige Schritte nur. Schritte zum Mond. Oder noch weiter. Sie schrak zusammen, als im Haus ein Heizungsschieber klapperte und irgendwo ein Lüfter rauschte. Das Haus lebte. Es lauerte. Es hatte sie erwartet. Es lud sie ein. Willkommen. Tritt ein …
Sie starrte die Treppe an, als sähe sie diese zum ersten Mal. In einer sanften Linksdrehung führte sie zur Empore, welche die Halle an drei Seiten umgab. Links und rechts von den großen, Kirchenbögen nachempfundenen Fenstern standen schwere lederne Sitzgruppen. Auf der Rückseite befand sich ein säulengesäumter Durchgang zu den Räumen im Obergeschoss. Ein breiter Gang mit Türen an beiden Seiten führte durch das gesamte Gebäude und endete vor einer imposanten Doppeltür. Dahinter befand sich der große Wohnraum mit dem gewaltigen Kamin und den hohen Fenstertüren, die auf einen geschwungenen Balkon mit Sandsteinbalustrade führten. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick über den Schlossgarten auf die Berge des östlichen Odenwaldes.
Dies alles registrierte sie im Unterbewusstsein. Der aktive Teil ihres Gehirns war auf die dritte Tür auf der linken Seite des Ganges fixiert. Das Zimmer ihrer Tochter. Das seit ihrem Tod vor fast zehn Jahren unverändert geblieben war. Tod? Ihr Mädchen war doch gar nicht tot! Sie hat doch nur geschlafen. Lange geschlafen. Fast wie Dornröschen …
Seit über einem Jahr hatte die Frau das Zimmer nicht mehr betreten. Heute würde sie es tun. Sie würde es aufräumen, sauber machen und frisch herrichten. Sie sollte es doch schön haben. Ihr kleines Mädchen. Stufe für Stufe bezwang sie die Treppe. Die breiten Sandsteinstufen schienen unter ihren Füßen aufzusteigen. Ihre Beine wurden schwer, ihre Knie schmerzten. Dann war sie endlich oben. Sie fror, obwohl sie noch immer ihre Jacke anhatte. Aus dem breiten Hauptgang schien sie ein Eishauch anzuatmen. Die dritte Tür links …
Lieber Papa
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Lange habe ich dir nicht mehr geschrieben. Es tut mir leid. Ich will keine Prinzessin mehr sein. Ich werde auch nie eine sein. Ich war heute bei Jenny auf ihrer Geburtstagsparty. Wir haben CDs getauscht und Musik gehört. Die Eltern haben im Garten gegrillt und wir sind dann alle noch Eis essen gegangen. Wir haben dann im Garten gezeltet. Sogar über Nacht! Ich war mit Jenny und Marie in einem Zelt. Marie hat schon einen Freund, der ist fünfzehn. Sie hat mich gefragt ob ich schon einen Jungen geküsst habe. Ich hab ja gesagt, weil ich dem Oskar mal einen Kuss auf die Wange gegeben habe. Da hat sie gelacht und gesagt, sie meine so richtig. Wie im Fernsehen. Dann hat sie lauter eklige Sachen gesagt. Tom hat auch schon so was gesagt. Alle diese Sachen, die Mädchen machen müssen, die Prinzessinnen werden wollen. Ich hab sie gefragt, ob sie auch ein
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