Skorpionin: Odenwal - Thriller (German Edition)
zu Hambach fiel im Zweiten Weltkrieg und das Schloss gelangte als kostspieliges Erbstück an die katholische Kirche. Diese verkaufte es 1975 an das Land Baden-Württemberg für einen symbolischen Spottpreis. Die Landesregierung unter Ministerpräsident Lothar Späth war nach einer Bestandsaufnahme und ersten Angeboten zur Restaurierung heilfroh, das feuchte Gemäuer 1982 an eine augenscheinlich an krankhaftem Optimismus leidende Milliardärin loszuwerden. Nicht zum Spottpreis natürlich …
Mit allen Sinnen nahm die Frau nun die Straße wahr. Kurve um Kurve wand sich das nasse Asphaltband durch dichten Wald. Spektakuläre Ausblicke wechselten sich mit dunklen Wäldern ab. Noch zwei Serpentinen. Noch eine … Ihre Hände krampften sich um das Lenkrad. Links von ihr öffnete sich der strahlend blaue Himmel über bewaldeten Bergen. Kein Haus, kein Dorf, kein Funkmast störte das Bild. Kanada hatte sie dieses Panorama genannt. Bis zu jenem Morgen im Januar. Von da an war es ihre ganz persönliche Hölle.
Die breiten Reifen knirschten auf dem Split des Seitenstreifens als der Wagen langsam ausrollte. Die Frau blieb minutenlang hinter dem Steuer sitzen. Starrte bewegungslos durch die Windschutzscheibe. Tief gruben sich ihre Finger in den weichen Lederbezug des Lenkrads. Endlich öffnete sie die Tür und stieg aus. Mit unsicheren Schritten ging sie über die Straße zu den weiß getünchten Steinen, die den Fahrbahnrand markierten. Dahinter ein steiler Hang, gespickt mit Felsen, dazwischen weiß gebleichte Baumleichen und unten, tief, tief unten das ausgeglühte Gerippe eines Sportwagens. Stille kroch erstickend heran, drang in sie ein, legte ihr Gehirn lahm, stoppte ihren Herzschlag, arretierte ihre Muskulatur und fixierte ihren Blick auf diesen verformten Haufen Leichtmetall. Eine Seite war mit einer Plane abgedeckt. Ein Windstoß ließ sie flattern, enthüllte für Sekunden eine zur Klaue verkohlte Hand, die wie Hilfe suchend nach ihr zu greifen schien. Dann löste sich das Wrack in Nichts auf. Die Stille gab auf, zog sich lauernd zurück und gab den Wind, die Vögel und ihr Herz wieder frei.
Zitternd ging die Frau in die Knie, wischte Staub und Dreck von den beiden Kreuzen über verwelkten Blumen. Das zweite Kreuz war fünf Jahre nach dem ersten aufgestellt worden. Hans Kober hatte das gemacht. Er bewirtschaftete einen Reiterhof zehn Kilometer von hier. Sie war gerne dort gewesen. Ihr kleines Mädchen. Ihre Leiche wurde erst nach tagelangen Suchaktionen entdeckt. Ihr Körper musste mehrfach auf die messerscharfen, schartigen Felsen aufgeschlagen sein, bevor er schließlich in ein Gebüsch geschleudert wurde. Bis auf wenige Meter genau an der gleichen Stelle, an der fünf Jahre zuvor ihr Vater den Tod fand. Was trieb ein zwölfjähriges Mädchen zu solch einer Tat? Ein Unfall wurde ausgeschlossen. Unter dem Kreuz am Straßenrand fanden Polizisten einen Brief:
Lieber Papa, ich komme jetzt zu dir. Ich freue mich so auf dich. Bitte fang mich auf. Deine Cap
Die Frau legte die Hände um das verwitterte Holzkreuz und zog es aus dem Boden. Sie hob es hoch über ihren Kopf, schloss die Augen vor der blendenden Sonne und schleuderte das Kreuz in die Tiefe. Leise klackernd, kleine Steine mitreißend, verschwand es hinter Geröll und Gestrüpp. Die Frau öffnete die Augen, atmete tief durch und breitete die Arme aus, als wollte sie selbst diesen Weg nehmen. Lange stand sie so da. Erst als ihre Schultern verkrampften, entspannte sie sich. Befriedigt registrierte sie die leere Stelle vor sich. Das Kreuz war fort. Sie brauchte es nicht. Hatte es nie gebraucht. Nie gewollt. Ihr Mädchen war nicht tot. Sie hatte es immer gewusst. Morgen würde es bei ihr einziehen. Morgen!
Sie ging zurück zum Wagen, holte den Blumenstrauß vom Rücksitz und legte ihn unter das verbliebene Kreuz. „Ich liebe Dich“, sagte sie leise.
Der Motor brüllte auf als sie losfuhr. Die letzten Kilometer reizte sie den GT gnadenlos aus. Wagner-Klänge vereinten sich mit dem Röhren des Zwölfzylinders. Mit traumwandlerischer Sicherheit hetzte sie den Zweitonner um die Kurven. Sie war eine exzellente Fahrerin. Im englischen Coventry hatte sie das spezielle Renntraining der Bentley-Sportscar-Ownership als Lehrgangsbeste abgeschlossen. Selbst gestandene Rennfahrer hatten Schweißausbrüche bekommen.
Das Adrenalin rauschte immer noch durch ihre Blutbahnen, als sie die breite Treppe zum Haupteingang hinaufeilte. Trotz des sonnigen Morgens haftete dem mit
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