Skorpionin: Odenwal - Thriller (German Edition)
Brennpunkten, Hintergrundsendungen und Leitartikeln über die Geschichte der Barlow und ihrer Opfer. Je nach Ausrichtung der Chefredaktion gab es süße Kinderbilder des „armen“ Gernot, Berichte über seine letzte Verurteilung, Interviews mit Klassenkameraden, Nachbarn und Kollegen „Er war immer ein anständiger, lieber Kerl“- „Das hätte niemand von ihm gedacht“- „Ach Gottle, so ein netter junger Mann“. Oder sarkastisch kommentierte Reportagen über die Karriere der Barlow, ihr gewaltiges Firmenimperium und die feudalistische Art, wie sie es regierte. Brot und Spiele für das Volk.
Am Tag der Hauptverhandlung wurde Anna-Sophia Barlow in einem Zivilfahrzeug der Staatsanwaltschaft zum Gericht gefahren. Den Vorschlag, sie über die Lieferantenzufahrt ins Gebäude zu bringen, lehnte sie vehement ab.
Flankiert von uniformierten Beamten und begleitet von ihrem Verteidiger Stephan Glimm schritt sie hocherhobenen Hauptes, die Augen hinter einer riesigen Sonnenbrille verborgen, durch das Spalier brüllender, von den Ordnungskräften nur mühsam im Zaum gehaltener Medienvertreter auf den Eingang zu. Fragen prasselten auf sie nieder, Mikrofone wurden ihr hingestreckt, Kameras glotzten mit ihren gläsernen Augen und Diktiergeräte wurden rührend hochgehalten, um inmitten dieser Kakofonie wenigstens ein oder zwei Worte von IHR einzufangen. Es gab nichts einzufangen. Nichts, außer diesem hochmütigen, arroganten Lächeln unter den dunklen Scheiben der Brille. Die Diva hielt Hof. Das einstige Topmodel wusste sich in einem solchen Umfeld sehr wohl zu bewegen. Dies war IHR Catwalk. Der bedeutendste, den sie jemals beschritten hatte. Kein Couturier, kein bezopfter Modezar stahl ihr hier die Schau. Ein Meter sechsundachtzig betörende Weiblichkeit, Lichtjahre entfernt von den durchscheinenden Skeletten heutiger Kleiderpuppen, rauschten durch diese grölende Gasse, die nur aus aufgerissenen Mündern, fuchtelnden Händen und glotzenden Augen zu bestehen schien. Pöbel. Kleingeister. Geiler Mob.
Niemand beachtete die schmale Frau mit der billigen Umhängetasche, die dreihundert Meter entfernt aus dem Bus stieg. Sie hielt ein etwa zwölfjähriges Mädchen an der Hand und musterte mit einer Mischung aus Angst und Unsicherheit das Tohuwabohu vor dem Eingang des Landgerichts. Sie ging weiter bis zu den Zuschauern, die hinter eilig aufgestellten Absperrgittern versuchten, einen Blick auf die „Schlächterin“ zu erhaschen. Ein blondes Aufblitzen zwischen den zum Teil auf Trittleitern stehenden Journalisten war alles, was es zu sehen gab. Und doch, im Mittelalter hätte man sich wohl bekreuzigt. Der Teufel! Satan! Der Fürst der Finsternis in sündig schöner Form! Tage und Abende hatte man DAS Thema für Kantine, Stammtisch und Couchgarnitur. Man hatte sie gesehen! SO dicht war man dran! Man hatte sie förmlich gerochen. Wäre der bierbäuchige Fleischermeister ihr tatsächlich derart nahe gekommen, hätte seine von Kümmel, Blunz 4 und Räucherschinken vergewaltigte Nase wohl kaum den exklusiven Duft von Serge Lutens erkannt, der, anstatt altmodisch schwefliger Pestilenzen, die moderne Luzifere umschwebte.
Stephan Glimm hatte vor, die Festung Dr. Brandes gleich im Handstreich zu nehmen. Seine Verteidigung baute auf die moralisch verständliche Tat als Racheakt.
Der Vorsitzende, ein jovial wirkender Halbglatzer mit Uhu-Augenbrauen und der unvermeidlichen Lesebrille auf der fleischigen Rieslingnase, eröffnete die Verhandlung mit dem Aufruf zur Sache und verlas die lange Liste der erschienenen Personen.
Auf der Zeugenbank saßen neben den von Glimm bestellten Gutachtern auch die schmale Frau in der billigen Bluse und ihre Tochter. Manch neugieriger Blick streifte die Frau und das eingeschüchtert wirkende Mädchen, das immer wieder schnelle Blicke zu Anna-Sophia Barlow warf, die, immer noch die übergroße Sonnenbrille auf der Nase, in perfekter Haltung auf der Anklagebank saß.
Dr. Brandes wies die Zeugen auf ihre Pflicht zur wahrheitsgemäßen Aussage und die strafrechtlichen Folgen bei Nichtbeachtung hin und schickte sie dann bis zu ihrem Aufruf aus dem Gerichtssaal.
Anschließend vernahm er die Angeklagte zu ihren persönlichen Verhältnissen. Anna-Sophia Barlow antwortete mit ruhiger, fester Stimme, zeigte ansonsten, sehr zur Enttäuschung der anwesenden Journalisten, nicht die leiseste Emotion.
Auch als Oberstaatsanwältin Demirel die Anklage verlas und sämtliche Details der Tatausführung darlegte, wirkte
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