Skorpionin: Odenwal - Thriller (German Edition)
Anna-Sophia Barlow könnte Ihrer Tochter etwas antun? Oder sie entführen?“
„Niemals!“ Petra Boskow stieß das Wort heftig und voller Entrüstung hervor. „Im Gegenteil. Sie hat mir leid getan, obwohl es uns selber ja auch nicht gerade gut ging. Später hat sie mir dann vom Tod ihrer Tochter erzählt. Da habe ich dann vieles kapiert. Sie war auf der Suche, denke ich. Paula hat sie wohl an ihr eigenes kleines Mädchen erinnert.“
„Wie geht es Ihnen heute?“ Glimm wandte sich um. Er wollte die Reaktion auf den Gesichtern der Zuschauer erleben.
„Es geht uns gut. Dank der Hilfe von Frau Barlow. Wir leben in einem kleinen Haus mit Garten, ich habe Arbeit, Paula geht in eine gute Schule. Das haben wir alles Frau Barlow zu verdanken. Sie hat uns ein neues Leben geschenkt. Sie ist ein guter Mensch. Ich danke Gott, dass er sie zu uns geschickt hat. Wir werden für sie beten.“
Im Saal hätte man ein fallendes Papiertaschentuch gehört.
„Danke Frau Boskow. Sie können jetzt gehen.“
Während Petra Boskow den Saal verließ, schritt der Anwalt mit sorgfältig bemessenen Schritten zu dem lebensgroßen Abbild von Caprice Barlow. Einige Augenblicke verharrte er, scheinbar versunken in den Anblick des blassen jungen Mädchens in Jeans und Sweatshirt.
Als die schwere Eingangstür sich deutlich vernehmbar schloss, war dies für ihn wie ein Startzeichen. Stephan Glimm inszenierte seine Auftritte vor Gericht wie ein Theaterregisseur einen großen Stoff. Nichts überließ er dem Zufall, alles hatte eine Bedeutung.
Klack. Das Innenfutter der Robe leuchtete sekundenlang rot auf, als er sich wieder den Zuschauern zuwandte. Seine Stimme hatte nichts Onkelhaftes oder Warmes mehr an sich. Der Teddybär hatte sich aufgerichtet. Er war nun ein Grizzly. Groß, dunkel, Furcht einflößend.
„Es geht ihnen gut“, grollte er, „Paula und ihre Mutter beten für Anna-Sophia Barlow. Für eine brutale, skrupellose Mörderin, die mit einem Glas Wein in der Hand zugesehen hat, wie ein Mensch auf grausame Art und Weise unmittelbar vor ihren Augen bei lebendigem Leib zerfleischt wurde.“
In diesem Satz steckten sämtliche Schlagzeilen der Boulevardpresse, welche in den letzten Wochen von großen Teilen der Bevölkerung mit wohligem Schaudern beim Frühstück oder auf der Arbeit verschlungen wurden. Glimm entfernte sich von dem Bild und klackte sich aufreizend langsam am Richtertisch entlang.
„Diese Frau hier!“ Er deutete auf die Angeklagte. „Diese Frau hat diese Tat begangen. Sie ist in vollem Umfang geständig. Sie hat die Tat im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte und nach sorgfältiger Vorbereitung begangen. Anna-Sophia Barlow, meine Damen und Herren, Herr Vorsitzender, Anna-Sophia Barlow ist eine vorsätzliche Mörderin!“
Glimm machte eine kleine Pause, um die Worte nachhallen zu lassen. Die Oberstaatsanwältin musterte ihn mit argwöhnischem Glitzern in den Augen.
Klack. Kehrtwende. Die Robe offenbarte wieder ein kurzes rotes Aufblitzen.
„Das Motiv?“ Klack. Der Verteidiger wanderte zurück zu dem Bild des Mädchens. „Hier sehen Sie das Motiv! Dieses Mädchen ist Caprice Barlow. Sie hat ihren Vater abgöttisch geliebt. Steve Barlow, Sie erinnern sich? Der Mann, der von Gernot Marks auf infame und bestialische Art und Weise ermordet wurde. Ein fast perfekter Mord. Keine Staatsanwaltschaft …“, ein rascher Blick zur Demirel, „… keine Soko hat diese Tat jemals aufgeklärt. Den Mord nicht und schon gar nicht das jahrelange, entsetzliche Martyrium der kleinen Caprice. Dokumentiert in diesem Tagebuch!“
Er zog ein quadratisches kleines Bändchen aus seiner Robe und schwenkte es vor den Zuschauern hin und her.
„Dieses Tagebuch, meine Damen und Herren, Herr Vorsitzender, ist ein Dokument des Grauens. Es beschreibt in den kindlichen Worten von Caprice Barlow, wie ein unschuldiges, einst glückliches Kind systematisch ausgenutzt, belogen, bedrängt und schließlich auf übelste Weise missbraucht wurde. Von einer Person, die es zunächst glühend bewundert, ja förmlich vergöttert hat. Einer Person, die ihr zunächst über den schmerzlichen Verlust des Vaters hinweghalf, einer Person, der dieses Kind bedingungslos vertraute. Die ersten Seiten dieses Buches spiegeln eine glitzernde Traumwelt, in der Caprice eine Prinzessin war und sich alle ihre Wünsche zu erfüllen schienen. Bis es dann so weit kam, dass ein Mädchen von gerade mal zehn Jahren die geheimsten und dunkelsten Wünsche von Gernot Marks
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