SLAM (German Edition)
mit zu sich nach Hause. Jedes Treffen, das sie hatten, hatte Soli bei Karims Eltern beantragen müssen. Sie waren streng. Wenn Soli und Karim miteinander aus waren, durften sie keine Minute der Zeit überziehen, die sie ihnen fortzubleiben eingeräumt hatten. Und als Soli endlich erreicht hatte, dass Karim über Nacht bei ihm sein durfte, hatte ihn das nichts Geringeres als das Versprechen gekostet, den jüngeren Mann zu heiraten, spätestens nach dem nächsten Ramadan.
Und so war es geschehen. Karim war damals 21 gewesen. Eine merkwürdige Zeit in seinem Leben, eine Zeit voller seltsamer Träume, Fantasien, Wünsche. Er gehorchte den Pflichten, die er seinem Mann gegenüber hatte, er erfüllte sie, so gut er konnte. Er wollte, dass Soli glücklich war und nicht bereute, ihn genommen zu hab en. Aber der fast kantige Körper dieses Mannes, die Steifheit, mit der sie den Akt vollzogen, die Züchtigkeit dabei … Karim wünschte sich insgeheim mehr. Mehr Wärme. Mehr Leidenschaft. Mehr … Rund .
Im zweiten Jahr ihrer Ehe hatte es begonnen. S oli war arbeiten, während Karim zu Hause blieb , um zu lernen. Er stand kurz vor der Abschlussklausur und wollte diese bestmöglich bestehen. Es war etwas, das er sich selbst abverlangte. Er gab immer das Beste, zu dem er in der Lage war.
Und dann hatte er plötzlich von seiner Literatur aufgesehen, hatte den geraden, kantigen Stuhl auf der anderen Seite des Tisches betrachtet, sich vorgestellt, wie es aussähe, wenn das Holzimitat abgerundet wäre, und eine Feile geholt. Hatte gefeilt. Und gefeilt. Und gefeilt. Bis zum Abend, als Soli nach Hause kam.
An diesem Abend gab es ein langes Gespräch, in dem er viele Dinge erklären sollte, von denen er nicht wusste, wie sie sich verhielten. Viele Gedanken, die er nie zuvor gehabt hatte, waren an diesem Abend und in diesem Gespräch erst entstanden. Die Lunte, die Soli mit dieser Unterredung gezündet hatte, war aus der Frage »Fehlt dir w as?« gedreht. Seither arbeitete sich eine Flamme an ihr entlang, unaufhaltsam auf einen Sprengsatz zu, von dem Karim nicht wusste, aus was er bestand. Aber er ahnte damals schon, dass er hoch explosiv war und entschärft werden musste.
Es kam noch einige Male vor, dass Karim diesem unstillbaren Drang, Dinge rundzuschleifen, nachgegeben hatte. Um Soli nicht weiter zu beunruhigen, wählte er stets Objekte, die ohnehin für den Abfall vorgesehen waren. Verbrauchte Dosen, Packungen oder Einrichtungsgegenstände, die ersetzt wurden, weil sie ihnen nicht mehr gefielen. Das ging ein paar Jahre lang gut.
Es war eine jener Boxen, in der die neuen Anzüge geliefert wurden. Jeden Monat bekam jeder von ihnen drei neue Anzüge, verpackt in grauen Kunststoffboxen mit relativ starken Wänden. Stark genug, um rundgefeilt zu werden.
Karim feilte. Selbstvergessen, in Träumereien von Rundungen versunken, fern jeder Zeit. Die aber verstrich. Und überschritten wurde.
»Was tust du da, Karim?«
Blut, so heiß, dass er glaubte, sein Kopf explodiere, schoss in Karims Gesicht. Er sah auf. Soli stand über ihm, er selbst hockte am Boden, die Box zwischen den überkreuzten Beinen, die Feile in der Hand.
»Ich … ich …«
Soli bückte sich und nahm ihm Feile und Box ab. Er begutachtete sein Werk. Drei der acht Ecken waren rund wie Halbkugeln.
»Du musst zu einem Psychoanalytiker. Ich will, dass du wieder gesund wirst.«
So machte Karim bald die Bekanntschaft mit Herrn Harum, den er nun jede Woche dienstags besuchte.
Herrn Harum s Haus war kein gewöhnliches Gebäude. Die dicken Steinmauern ließen von außen nicht ahnen, dass der Flur, den man durchqueren musste, um ins Innere des Gebäudes zu gelangen, zunächst in keinen Wohnraum, sondern in eine Galerie führte. Es gab derer vier. Sie säumten einen Kreuzgang, in dessen Mitte sich ein gläserner K ubus gegen den saftig grünen Rasen des Hofes erhob. Niemals hatte Karim eine der Türen durchschritten, die von den Galerien ins Haus führten. Die Behandlung fand zu jeder Jahreszeit in diesem Glaswürfel statt.
Herr Harum s aß in einem quadratisch en Polsterstuhl, als Karim eintrat. Er hatte die Hände vor dem Bauch verschränkt, die Augen hielt er geschlossen. Unnatürliche Blässe verlieh seinem breiten Gesicht etwas Statuenhaftes, die Haut so glatt wie geschliffener Speckstein. Wer ihn nicht kannte und das erste Mal so sah, der mochte glauben, der Mann sei tot. Seine Brustkorb regte sich nicht, kein Zucken durchlief sein Antlitz, auch sonst
Weitere Kostenlose Bücher