SLAM (German Edition)
sah sich verlegen um. Ein anderer Mann war wenige Schritte neben ihm stehen geblieben. Er betrachtete die Skulptur, dann Karim. Ein Lächeln umspielte seine vollen Lippen. »Sie ist wunderschön, nicht wahr? Ich kenne den Architekten. Er ist ein wahrer Meister seines Fachs.«
»Das ist er ganz of fensichtlich«, erwiderte Karim.
»Ich liebe das Geradlinige in seiner Kunst. Dies ist nicht bloß geometrische Form. Skulpturen wie diese versinnbildlichen Vollendung, verzichten auf unnötige Spielerei. Ihre Harmonie aus Fläche und Linie sind wie eine Hymne auf die Vollkommenheit der gesamten Gegenwartsarchitektur. Keine Unebenheiten, keine Schnörkel. Perfekte Formen in einer perfekten Welt.«
War sie das?, fragte sich Karim. War diese Welt wirklich so perfekt, wie dieser Mann behauptete? War sie vollständig?
Er nickte, lächelte dabei. Soli sagte oft, er würde niemals mit den Augen lächeln. Mit dem Mund ja, seinen Lippen konnte er jederzeit befehlen, Freundlichkeit auszustrahlen, aber seine Augen … sie waren nicht kontrollierbar.
»Amid Sayin.« Der Mann streckte Karim eine schlanke Hand entgegen. Karim nahm sie an und stellte sich ebenfalls vor. Amids Haut war kühl wie die eines Fisches. Sie fühlte sich glatter an, als das etwa vierzigjährige Gesicht es hätte vermuten lassen. Die schmale Krempe seines eleganten Stetson warf einen geheimnisvollen Schatten über aufmerksam dreinschauende Augen. Karim fühlte sich von diesem Blick wie durchbohrt.
»Es tut mir leid, Herr Sayin, ich muss dringend zu einem Termin. Es war mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.«
»Das beruht ganz auf Gegenseitigkeit.« Wieder berührte diese kalte Hand Karims Finger. »Ich hoffe, wir begegnen uns bald wieder, vielleicht hier, vielleicht morgen schon, um diese Zeit? Wir können uns ein wenig austauschen. Man trifft nicht viele Menschen mit gutem Kunstgeschmack.«
Karim pflichtete ihm bei, ohne auf diesen Versuch einer Verabredung einzugehen. Schon im nächsten Augenblick eilte er davon, bemüht, es nicht wie die Flucht aussehen zu lassen, die es war. Männer wie Amit machten ihm Angst. Männer, die sich für ihn interessierten. So höflich und freundlich sie auch stets waren, er hatte oft das Gefühl, sie konnten mitten in seine verwirrte Seele sehen.
Herrn Harums Praxis lag in einem Park wie dem, den Karim auf dem Weg hierhin durchquert hatte. Aber anders als in jener rautenförmigen Anlage war diese r Park quadratisch aufgeteilt. In seinem Zentrum lag ein quadratischer See, in dessen Mitte eine quadratische Insel, deren Herzstück, ebenfalls mittig, Herrn Harums quadratisches Haus bildete. Neun quadratische Ruheplätze – mit rotem Sand gedeckte Flächen, auf denen jeweils neun Liegestühle auf erho lungsbedürftige Gäste warteten – , umgaben den See. Man konnte auf quadratischen Steinfliesen zwi schen ihnen umhergehen, ohne einen Fuß ins Gras setzen zu müssen . Diese Steinfliesen, je neun Stück an der Zahl, waren um jede Ruheinsel angelegt und wurden wiederum von je neun klein er en quadratisch en Steinfliesen umgrenzt. Karim kannte diese Anordnung aus der Schule. Sie gehörte zur fraktalen Geometrie, einem von Solis Lieblingsthemen, wenn es um Mathematik ging. Ihre genaue Bezeichnung hatte er allerdings vergessen.
Trotz der Kälte war ihm warm. Er hatte den Rest des Weges schnell gehen, fast rennen müssen, um nicht zu spät zu kommen. Herr Harum war ein meist freundlicher Mann, aber was Pünktlichkeit anging, kannte er keine Toleranz. »Selbstdisziplin beginnt mit absoluter Verlässlichkeit gegenüber anderen.« Einer der ersten Sätze, die er vor vier Jahren zu Karim gesagt hatte und seither wie ein Mantra wiederholte.
Es hatte Karim viel Überwindung gekostet, den Psychoanalytiker aufzusuchen. Natürlich war ihm klar gewesen, dass sein Drang, Kanten und Ecken rundzuschleifen, etwas Krankhaftes war und einer Behandlung bedurfte. Er war sich auch bewusst gewesen, dass er diesen Drang nicht ewig vor anderen würde verbergen können. Aber solange ihm niemand auf die Schliche gekommen war, ihn niemand offen darauf angesprochen hatte, reichte diese Erkenntnis alleine nicht, Konsequenzen zu ziehen.
Bis Soli es entdeckt hatte.
Sie waren seit acht Jahren zusammen. Soli hatte lange um Karim geworben und viel Geduld dabei gehabt. Er hatte bei seinen Vätern vorgesprochen, ihn mit zu Theateraufführungen nehmen zu dürfen, zum Essen, später zu Besuchen in den Badeanstalten und eines Tages
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