Slide - Durch die Augen eines Mörders
Kapuzenpullovers nach der kleinen orangenen Flasche mit der Aufschrift
Provigil
. Mein Arzt hat es mir verschrieben, damit ich wach bleibe, doch in Wirklichkeit bringt es gar nichts. Ich habe das Provigil weggeschüttet und die Flasche mit billigen Koffeintabletten gefüllt, dem einzigen Medikament, das bei mir zu wirken scheint – aber auch nur, wenn ich sechs auf einmal schlucke. Wenn ich hingegen das Provigil nehme, bewege ich mich wie durch einen Nebel, aber das Koffein macht das Bild scharf. Meine Hände zittern, als ich einige Tabletten herausfische und in den Mund stecke, obwohl ich das Gefühl habe, es könnte zu spät sein.
Es wird abgespült, und die Toilettentür hinter mir geht auf. Da steht Sophie mit glasigen Augen und wischt sich den Mund mit dem zitternden Handrücken ab. In ihrem glänzenden schwarzen Haar klebt ein gelbes Bröckchen. Ich muss mich abwenden.
»Ach du bist’s, Gott sei Dank.« Sie geht ans Waschbecken und dreht das Wasser auf. In unserer Schule gibt es nur eine Temperatur: arktisch. Sie schöpft Wasser in die Hände und wäscht sich das Gesicht. »In letzter Zeit ist mir immer schlecht.«
Ich will etwas sagen, doch es kommt nur ein komisches Krächzen heraus. Mein Kopf tut weh. Es wird dunkel, ich drücke die Handflächen an die Stirn und sinke zu Boden.
Ich werde mich nie daran gewöhnen, durch die Augen eines anderen zu sehen. Es ist, als sähe jeder Mensch die Welt in einer etwas anderen Farbe. Das Problem ist herauszufinden, wer der Mensch ist. Es kommt mir vor, als setzte ich ein Puzzle zusammen – was sehe, höre, rieche ich? Lauter Hinweise.
Jetzt gerade rieche ich Schimmel und Haarspray.
Ich bin in der Mädchenumkleide. Rechts und links von mir scheußliche rosa Spinde. Das Mädchen, in das ich gewandert bin, streift schwarze Ballerinas über Füße, die vor lauter Selbstbräuner ganz orange sind. Ihre Zehennägel sind blau und in der Mitte der Nägel prangen kleine Gänseblümchen.
Der Sportunterricht muss vorbei sein. Halbnackte Mädchen laufen herum, winden sich aus Shorts, die für Oktober viel zu dünn sind, bürsten sich die Haare und tragen diskret ihr pudrig riechendes Deo auf.
Ganz in meiner Nähe zieht ein blondes Mädchen eine enge Jeans an. An der Hüfte hat sie einen kleinen weißen Fleck in der Form des Playboy-Bunnies. Dort trägt sie immer einen Aufkleber, wenn sie sich sonnt. Das Mädchen ist Mattie, meine Schwester, und in jeder Hinsicht mein Gegenteil. Wenn sie der rosa Glitzer auf der Valentinskarte ist, bin ich der schwarze Edding, mit dem man im Jahrbuch den Lehrern einen Schnurrbart malt.
Ich merke, wie ich den Mund aufmache und mit der Stimme von Amber Prescott spreche, dem meistgehassten Menschen im ganzen Universum. »Mann, ich hab grad echt schlimme Kopfschmerzen. Aus heiterem Himmel. Hat jemand Aspirin dabei?«
Ich überlege fieberhaft, wieso ich in Amber gewandert bin. Ich habe nichts berührt, das ihr gehört. Oder doch?
Mattie schlingt ein Haargummi um ihren seidigen Pferdeschwanz. »Nee, tut mir leid … Und eigentlich«, fährt sie fort, »ist es mir egal, wenn Sophie sich an Scotch ranschmeißt. Soll sie doch die Hure spielen, wenn es ihr gefällt.«
»Ich persönlich finde es echt abstoßend, wie sie sich an ihn ranwirft. Ich meine, so was macht eine Freundin doch nicht. Sie weiß doch, dass du auf ihn stehst.«
Scotch? Etwa Scotch
Becker
? Der größte Arsch der elften Klasse? Ich könnte kotzen, wenn ich nur seinen Namen höre. Seit wann mag Mattie Scotch, Quarterback und Drecksack erster Klasse?
Mattie verzieht das Gesicht, als hätte sie eine ganze Schachtel Zitronenbonbons gelutscht. Das tut sie immer, wenn es aussehen soll, als wäre ihr etwas egal.
»Was soll ich denn machen? Ich kann ihn ja nicht zwingen, mich zu mögen. Außerdem, warum sollte er nicht auf Sophie abfahren? Sie … sieht doch … wirklich gut aus.« Mattie lässt sich auf die Bank fallen und schlägt die Hände vors Gesicht.
Amber tritt näher und klopft ihr auf den Rücken. »Komm mir nicht auf die Tour, Mattie. Scotch muss bekloppt sein, wenn er dich für diesen Freak fallen lässt. Ich meine, Sophie steckt sich alle fünf Minuten den Finger in den Hals. Obwohl sie ihr Gewicht halbiert hat, ist sie von innen immer noch fett. Das vergessen die Typen nicht. Sie ist immer noch Schweinchen Dick aus der sechsten Klasse.«
Schweinchen Dick. Sophies alter Spitzname weckt ungute Erinnerungen. Kinder, die sie im Bus mit Cremetörtchen bewarfen.
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