Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
und die flüchtige Gelegenheit zu ergreifen, die er mit sich bringt. Wenn man aber zögert und nicht handelt, läuft er vorbei, man kann ihn nicht zurückhalten, und der Augenblick ist für immer verloren. Kairos steht nicht für die lineare Zeit. Man findet ihn in der ewigen Gegenwart, er spukt in unseren Erinnerungen an verpasste Gelegenheiten herum. Wir alle sind Kairos schon begegnet. Wir alle kennen dieses Gefühl oder eben diese Art der Zeit. Auf Kairos geht die berühmte Sentenz Carpe diem (Ergreife den Tag) zurück. Er steht für die Entscheidungen, die wir getroffen oder eben nicht getroffen haben, die die Landkarte unseres Lebens ausmachen und die Reisen, die daraus entstehen. Es sind die Taten, zu denen wir uns spontan entscheiden und die unsere Lieben und unser Leben für immer verändern. Doch in der hektischen Welt, in die wir alle normalerweise eingebunden sind, existiert Kairos gar nicht.
Ich verzehrte einige belegte Brote, die ich von zu Hause mitgebracht hatte, und streckte meine Füße im Gras des angrenzenden Feldes aus. Langsam begann ich mich auf angenehme Weise idiotisch zu fühlen. Die römische Straße existierte offensichtlich nicht mehr, in der Landschaft waren nicht einmal mehr irgendwelche Spuren zu entdecken, wie sie alte Viehtriebpfade manchmal hinterlassen. Ich war dabei, etwas zu tun, was mir noch vor einer Woche ziemlich verrückt vorgekommen wäre, aber ich war vollkommen zufrieden. Ich wusste, dass dieses Gefühl nicht anhalten würde,morgen würde ich wieder arbeiten müssen, aber als ich dort saß, fühlte ich mich frei. Die Zeit rannte mir nicht davon.
Der unauffindbare Pfad war früher eine Hauptstraße, die Chichester mit der römischen Stadt Calleva Atrebatum verband, die passenderweise ebenfalls nicht mehr existiert. In I Saw Two Englands , das knapp zehn Jahre nach Lees Reise geschrieben wurde, beschreibt der Autor und Reisende H. V. Morton einen Ausflug zu den unbebauten Feldern, die zwischen dem heutigen Reading und Basingstoke liegen. Er denkt darüber nach, wie eine Stadt, die 400 Jahre lang Teil des Römischen Reichs gewesen ist, vollständig von der Natur zurückerobert werden konnte, während andere, insbesondere Chichester, weiterhin genutzt und wieder aufgebaut wurden. Auch heute kennt niemand die Antwort auf dieses Rätsel, doch es rückte das Konzept des »Landbesitzes« wieder in den Fokus. Mir gefällt die Vorstellung, dass die Stadt für Hunderte von Jahren einfach dem Verfall anheimgegeben wurde und die Menschen, die in der Gegend lebten, es zuließen, weil es in jenen Tagen gang und gäbe war, dass große Teile der Landschaft unkartografiert und unbewirtschaftet blieben. In dieser Wildnis konnte die Land-schaft ihre ureigene geografische Imaginationskraft wiedergewinnen, die sich in den spannenden Geschichten ausdrückte, die man gemeinsam am Feuer austauschte und die wir heute nicht mehr rekonstruieren können.
Da es keinen Weg gab, machte ich mich des unerlaubten Betretens eines Grundstücks schuldig, und mein Spaziergang war nicht länger legal, sondern wurde zu einem gesetzwidrigen Abenteuer. Die Karte, von der ich mir so viel erhofft hatte, war keine große Hilfe. Ich konnte die steilen Flanken der Downs und die Wälder sehen, die mein Ziel waren, doch von meinem Standort aus war es unmöglich, auf geradem Weg dorthin zu gelangen. Ich war wie ein Boot, dasauf den gefährlichen Klippen eines privaten Grundstücks gestrandet war, die unter der Wasseroberfläche verborgen lagen. In diesem Moment flog ein Odysseusfalter vorbei, der von dem warmen Wetter offensichtlich ebenso irritiert war wie die Eichhörnchen, und ein Bussard kreiste über mir – so tief, dass er mich zwischen den Bäumen anscheinend nicht gesehen hatte. Das waren weitere Hinweise darauf, dass meine Wahrnehmung sich verändert hatte. Wenn man sich so in seine Umgebung einfügt, dass die Wildtiere einen nicht bemerken, ist es immer ein gutes Zeichen. Ich bewegte mich nun in dem Tempo, das nötig ist, um zu würdigen, dass die Landschaft nicht nur eine Kulisse darstellt, sondern voller Leben steckt. Der Schmetterling kam zurück und landete neben meinen Füßen, während die Leute, die »Wichtiges zu erledigen« hatten, trotzig auf der Straße weiter unten vorbeirasten, derselben Straße, die auch ich viele Male mit dem Auto genommen hatte. Ich beendete mein Mittagessen, sammelte meinen Müll ein und ging frech geradeaus, in die Richtung, in die die antike Straße hätte verlaufen
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