Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
sich bei den größten Reiseautoren in den akribischen Beschreibungen der Orte, die sie besucht haben, und der Menschen, denen sie begegnet sind.
Vor 80 Jahren traf Lee auf seiner Reise durch die Downs auf Menschen mit einem völlig anderen Zeitverständnis. Nördlich von Worthington stieß er auf einige erfahrene Landstreicher, die alle auf der Straße lebten und auf dem Rückweg ihrer jährlichen Wanderung durch England waren. Sie waren so etwas wie die Jäger und Sammler der 1930er Jahre, und einer von ihnen hatte Mitleid mit dem halb verhungerten Lee und nannte ihn ein »armes kleines Arschloch«:
Er war ein Landstreicher durch und durch, der sich ständig aus- und einwickelte und in seinenHabseligkeiten kramte. Er war nicht auf der Suche nach Arbeit, es war einfach sein Leben, und er achtete sorgfältig darauf, sich seine Kräfte einzuteilen – nie ließ er ein Stück Gras links liegen, das ihm als Bett dienen konnte, oder ein Cottage, wo ein Almosen zu ergattern war. Er sagte, sein Name sei Alf, aber das musste nicht stimmen, da er mich und jeden anderen ebenfalls Alf nannte.
Das Nomadenleben der Landstreicher veränderte sich je nach Jahreszeit, im Frühling und Sommer tourten sie durch das Land, oft von einer Landwirtschaftsschau zur nächsten, und im Winter suchten sie einen Unterschlupf in der Stadt. Lee beschreibt Alf als jemanden, der langsam, aber nicht träge ist und nach seinem eigenen Rhythmus lebt, anstatt sich dem der anderen anzupassen.
Obwohl ich ansonsten einen soliden Glauben an die Gesetze und Methoden der Wissenschaft habe, hege ich keinerlei Zweifel daran, dass unser Gehirn dazu in der Lage ist, unterschiedliche Arten von Zeit wahrzunehmen. Wir alle wissen, dass die Zeit schneller vergeht, wenn wir mit etwas beschäftigt sind, auf das wir uns schon lange gefreut haben, und sich verlangsamt, wenn wir etwas tun müssen, wovor wir uns fürchten. Für jeden, der einen Vollzeitjob hat, vergehen die Wochenenden viel schneller als die ersten beiden Tage der Woche. Man muss allerdings Vorsicht walten lassen, wenn man über die Zeit spricht. Nur wenige vernünftige Menschen würden heutzutage wagen zu behaupten, dass es eine andere Zeit gibt als die Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Doch die Vorstellung, dass das langsame Reisen einemeinen Zugang dazu verschaffen kann, eine andere Art von Zeit zu erleben, und dass Homers Odyssee vermutlich die erste Reisebeschreibung überhaupt war, ermutigte mich. Vor einigen Jahren habe ich einmal gelesen, dass die Griechen zwei Götter hatten, die für die Zeit zuständig waren. Der erste, Chronos, ist allgemein bekannt. Er ist der Gott der chronologischen, messbaren, gleichmäßigen, wissenschaftlich definierten Zeit. Eine Sekunde folgt auf die nächste, vielleicht bis in alle Ewigkeit. Ihm zu Ehren tragen wir alle Armbanduhren. Chronos repräsentiert nicht die Art von Zeit, über die Lee schrieb oder in der »Alf« lebte oder in der meine eigenen Erfahrungen mit dem langsamen Reisen stattfinden, aber seine Zeit ist sicherlich die, in der wir den größten Teil unseres Arbeitslebens und sogar unserer Ferien verbringen. Ferien bieten Erholung von der zeitgebundenen täglichen Routine, der wir alle zu entkommen versuchen, aber sie engen uns ebenfalls ein. Es liegt in seiner Natur, dass Chronos uns dazu bringt, zurück- und nach vorn zu schauen, anstatt uns auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Er ist unser Feind, wenn ein Urlaub noch zu weit in der Ferne liegt, wenn wir endlich freihaben (denn die Zeit vergeht zu schnell) und wenn wir wieder nach Hause kommen (denn er treibt uns weiter in die Zukunft). Alles, was uns bleibt, sind ein paar Schnappschüsse, die nicht wirklich zeigen, wie wir uns gefühlt haben.
Interessanterweise, vor allem für den müßigen Reisenden, gibt es aber noch einen anderen griechischen Gott der Zeit – einen, der meiner Meinung nach besser zur Erfahrung des langsamen Reisens passt –, doch er ist weitgehend unbekannt. Sein Name ist Kairos, und er ist für die göttliche Zeit zuständig, jene Momente im Leben, in denen man mutig handeln muss oder es für immer bereuen wird. Auf den wenigen Darstellungen, die ich von ihm finden konnte, siehter ziemlich seltsam aus. Er hat Flügel an den Füßen – weil er so schnell ist – und eine dicke Haarlocke über der Stirn, während sein restlicher Schädel völlig kahl rasiert ist. Wenn man ihn kommen sieht, muss man ihn bei seinem Schopf packen, um ihn aufzuhalten
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