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Slow Travel: Die Kunst Des Reisens

Slow Travel: Die Kunst Des Reisens

Titel: Slow Travel: Die Kunst Des Reisens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Kieran
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genau, was er meinte.
    Die Ruine blieb ein Phantom, entweder war sie so vollständig überwuchert, dass sie gar nicht mehr existierte, oder sie war abgerissen worden, ohne dass die Götter vom Landesvermessungsamt darüber informiert worden waren. Ich trat aus einer Hecke und sah zwei Mountainbiker, die einen Pfad entlangradelten. Den Pfad. Den South-Downs-Wanderpfad. Als ich ihn erreicht hatte, fiel der Horizont zu meiner Rechten ab, und ich sah einen Hügel, der sich gen Arundel hin erhob, doch der aufsteigende Weg verdeckte mir die Sicht nach links. Ich trottete hungrig voran, wild entschlossen, den Aussichtspunkt zu erreichen, für den ich mich so abgemüht hatte. Bald fiel der Boden wieder ab, und die Sonne zeichnete die hügelige Landschaft mit unregelmäßigen Umrissen nach. Die Böschungen der Downs waren steil, an einigen Stellen verliefen sie beinahe senkrecht, und hinter einem weiteren kiefernbestandenen Hügel kam die Landspitze von Harting Hill in Sicht. Endlich befand ich mich auf dem Kamm des Hügels, und mit jedem Schritt entfaltete sich die Landschaft etwas mehr, bis das Tiefland vonHampshire unter mir erschien. Ich konnte meilenweit über eine Hochebene hinwegblicken, die ich unzählige Male im Auto überquert hatte, ohne die Landschaft wahrzunehmen; ich war immer bequem und schnell auf der asphaltierten Straße vorbeigefahren. Ich lächelte wie ein Mann, der das Ausmaß seiner eigenen Ignoranz erkannt hat, aber willens ist, mehr zu erfahren, anstatt sich davon niederschmettern zu lassen. Ich stand dort eine Weile, holte tief Luft, und mein Atem trieb im Wind davon.

    Es ist nicht nur die Natur, die wir schwerlich begreifen können, wenn wir die Begriffe und Namen nicht kennen, die man braucht, um sie bestimmen zu können. Dasselbe gilt auch für alle menschlichen Erfahrungen. Wenn wir kein Wort für eine Vorstellung haben, hat das Gehirn Schwierigkeiten, sie sich zu merken. Das hört sich zunächst nach einem kleineren Problem an, doch unsere Sprache bestimmt die Art, wie wir denken und unser Leben angehen, genauso sehr wie die Gesetze des Universums. Für die meisten Menschen stellt Kairos ein Beispiel dafür dar. Sobald wir begreifen, dass es Augenblicke gibt, die unser Leben für immer verändern können, und dass es ein Wort gibt, das diese Möglichkeit ausdrückt, kommt es uns so vor, als hätten wir diesen Begriff schon unser ganzes Leben lang intuitiv verstanden, wir konnten ihn bislang nur nicht benennen.
    Es gibt noch viele andere derartige Begriffe – ich bin ständig auf der Suche nach solchen Wörtern –, und als ich an diesem Buch schrieb, stieß ich auf ein weiteres faszinierendes Wort. Es ist das hebräische Wort Z edaka . Es lässt sich nicht direkt übersetzen und bedeutet sowohl Wohltätigkeit als auch Gerechtigkeit. Bei uns bedeutet Wohltätigkeit, dassman den Bedürftigen hilft, und Gerechtigkeit, dass man bekommt, was man verdient. Für uns sind es zwei sehr unterschiedliche Begriffe. Sie haben das Potenzial, eine politische Debatte auszulösen, denn während man Wohltätigkeit gegenüber jemandem ausüben kann, legt die Verbindung mit Gerechtigkeit nahe, dass derjenige diese auch verdient hat, wonach es sich dann im Umkehrschluss nicht mehr um einen Akt der Wohltätigkeit handeln würde. Jede der beiden Definitionen steht für sich, doch dem Wort Z edaka gelingt es, diese Begriffe miteinander zu verbinden.
    Für jemanden, der Hebräisch spricht, stellt das Ganze keinerlei Problem dar, denn ein wohltätiger Akt ist per Definition auch eine Frage der Gerechtigkeit. Er muss nicht zwischen beiden Bedeutungen abwägen, weil der Begriff für ihn selbstverständlich ist. Diese Vorstellung in einer Sprache zu erfassen, in der sie nicht einem einzigen Wort zugeordnet werden kann, ist außerordentlich schwierig, selbst wenn man das Gefühl hat, sie verstanden zu haben. Es bleibt offen, ob jemand, der nur Englisch spricht, sich jemals einen solchen Begriff hätte ausdenken können.
    Ich gebe Ihnen noch ein anderes Beispiel, das mit Zeit zu tun hat. Die Inuit, die in der Arktis leben, bezeichnen die Zukunft als invatarru . Doch dieses Wort heißt zugleich auch Vergangenheit, denn in ihrer Kultur verläuft die Zeit zyklisch. Bei einer solchen Zeitvorstellung muss man nicht fürchten, dass ein leeres Nichts am Ende des Lebens steht, und man braucht keinen Mythos vom ewigen Leben, das auf den Tod folgt. Unabhängig davon, ob diese Vorstel-lung »wahr« ist oder nicht, ist sie in all

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