Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
der Natur geht: »Man findet in der Wirklichkeit keine Paradiese, wie sie auf der Leinwand Claude Lorrains erstrahlen.«
Im Verlauf der Geschichte wird deutlich, dass Ellison vorhat, dies zu beweisen, indem er einen Ort findet, den er bis zur Perfektion verbessern kann. Bevor er sich aufmacht, um sein unvergleichliches technisches Meisterstück in die Tat umzusetzen, reist er auf der Suche nach den schönsten Land-schaften mit dem Erzähler um die ganze Welt. Sie verbringen vier Jahre damit, die großartigsten Aussichten zu genießen, die die Natur erschaffen hat, bis sie schließlich darüber entscheiden, welche Ellison als Leinwand dienen soll. Die Geschichte setzt einige Jahre nach Ellisons Tod wieder ein, als der Erzähler in einem Boot einen Fluss hinunterfährt, um das legendenumwobene Gut zu besuchen. Es folgt die Beschreibung von Arnheim, die den größten Teil der Geschichte einnimmt. Die Landschaft ist von solcher Perfektion, dass jeder Stein und jedes Blatt an ihrem Platz liegen. Auf der Fahrt durch die seltsam vollkommene schottische Landschaft an diese Geschichte zu denken gab mir ein angenehmes – wenn auch ziemlich unwirkliches – Déjà-vu.
Als wir in Oban eintrafen, schneite es heftig. Wir machten uns sofort auf, um herauszufinden, ob die Fähren in Betrieb waren. Es gab gute Neuigkeiten: Die Stromversorgung der Stadt funktionierte wieder, und nach einigen stürmischen Tagen war der Sund von Mull vollkommen ruhig. Wir mussten ein paar Stunden warten, aber am Abend würden wir wieder auf unserem Weg sein. Die Sonne würde bereits untergehen, wenn wir die einstündige Fahrt auf die etwa elf Kilometer entfernte Insel antraten. Wir verstauten unsere Taschen in den Schließfächern am Bahnhof und gingen in einen Pub, um Meeresfrüchte zu essen und das lokale Bier zu probieren. Danach wurde Kev wieder etwas munterer, vor allem, weil die Sonne herausgekommen war und es aufgehört hatte zu schneien. Also machten wir uns auf, um uns die wichtigsten Sehenswürdigkeiten von Oban anzusehen.
McCaig’s Folly ist eine davon, die man nicht übersehen kann. Das riesige Oval aus Rundbögen, das eine Hommage an das Kolosseum in Rom darstellt, liegt auf einem Hügel direkt hinter der Stadt. Es wurde von John Stuart McCaig erbaut, einem Bankier, der ein bleibendes Monument für seine Familie errichten und gleichzeitig den arbeitslosen örtlichen Steinmetzen eine Beschäftigung verschaffen wollte. Es wurde nie ganz fertiggestellt, doch wie die meisten Zierbauten verlockt es einen dazu, auf den Hügel zu steigen und den Ausblick zu genießen. Obwohl Kev seit drei Jahrzehnten über Oban nach Mull fährt, hatte er die Insel noch nie von hier oben aus gesehen. Vor der Bucht von Oban liegt die Insel Kerrera, doch aus diesem Blickwinkel sieht es aus, als wäre die Insel irgendwo weiter südlich mit dem Festland verbunden. Mull liegt dahinter, ein Höhenzug mit schneebedeckten Gipfeln, der sich aus dem Firth of Lorn erhebt.
Das Wort »Firth« hat übrigens dieselbe Wurzel wie das skandinavische »Fjord«, was man sofort versteht, wenn mansich in der Nähe eines solchen befindet. Man begreift, wo die Mythen der Highlands und der Western Islands herstammen, wenn man Wörter wie »Firth« (Förde), »Loch« (See) und »Minch« (Meerenge) in sich aufnimmt.
Nur wenige wissen, was diese Wörter eigentlich bedeuten, aber es gelingt uns, sie mit ungefähren Vorstellungen zu verbinden. Vielleicht ist es diese Unbestimmtheit, die uns den Platz zum Träumen gibt und den Highlands und den Inseln ihre unwirkliche Qualität verleiht. Aus dieser Entfernung sah Mull jedenfalls genauso aus wie eine imaginäre Land-schaft – wenn nicht sogar besser.
Kev lachte in sich hinein. »Dan, es gibt mindestens 45 brütende Adlerpaare auf dieser Insel. Ich frage mich, ob wir auch nur ein einziges davon zu Gesicht bekommen werden.« Er klopfte mir auf die Schulter und ging davon. Ich starrte die hohen Berggipfel an, die mich nahezu überwältigten, was sicherlich dem Mangel an Schlaf und dem Alkohol geschuldet war, aber ich war begeistert, dass ich mein eigenes Gut zu Arnheim gefunden hatte.
Kürzlich habe ich ein Buch des Neurobiologen Semir Zeki gelesen, es heißt Glanz und Elend des Gehirns. Zu Anfang wird das »ideale« Potenzial, das für Poe in der Vorstellungskraft des Menschen liegt, mit der »unvollkommenen« vergänglichen Wirklichkeit kontrastiert, in der er zu leben gezwungen ist. Zeki erklärt, dass das Gehirn zwei
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