Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
unterschiedliche Konzepte verwendet, um unseren Erfahrungen einen Sinn zu geben. Das eine ist angeboren (beispielsweise wie das Gehirn Farben erkennt), und das andere ist erlernt und entwickelt sich zeit unseres Lebens weiter (beispielsweise wer und was wir sein wollen). Zeki erläutert, dass unsereVorstellung von etwas wie einem idealen Haus dadurch entsteht, dass wir bereits in Hunderten von Häusern waren oder Bilder von ihnen gesehen haben. Doch weil diese Collage aus Bildern und Gefühlen sich ständig verändert, weil wir immer neue Erfahrungen machen, kann diese »perfekte« Vorstellung, die wir in unseren Köpfen herumtragen, niemals von der Realität eingeholt werden. Diese verblüffende Komplexität des Gehirns – das ja das komplizierteste Gebilde im gesamten bekannten Universum ist – ist laut Zeki der Grund dafür, dass wir dazu verurteilt sind, unser Leben lang zu leiden. Vereinfacht ausgedrückt reflektiert unsere Vorstellungskraft unsere eigentlichen Wünsche viel besser als die reale Welt, in der wir leben.
Zekis Buch konfrontiert einen auch mit der These, dass alles, was einem im Leben begegnet, egal ob es real oder imaginär ist, letztlich aus mentalen Vorstellungen besteht. Was man sieht, schmeckt und hört, entstammt zwar der realen Welt, doch sobald es vom Gehirn verarbeitet wird, entzieht es sich vollständig der Realität. Das bedeutet, dass die Art und Weise, wie wir die Welt interpretieren, davon abhängig ist, was das Gehirn wahrnehmen kann, was nahelegt, dass die »reale« Welt weitaus größer und komplexer ist, als uns bewusst ist. Zekis Gegenüberstellung von Konzepten, die der realen Welt entstammen, und unseren imaginären Wunschvorstellungen erinnert an Poes Argument, dass jeder Anblick, den die Natur ersonnen hat, von der Vision eines Künstlers oder, genauer gesagt, vom Gehirn des Künstlers übertroffen werden kann.
Anschließend wendet sich Zeki dem Phänomen der unerfüllten Liebe zu und untersucht, warum wir die tragische Liebe so unwiderstehlich finden und oft sogar viel faszinierender als die normale Variante. Wenn man Zekis Argumentation folgt, liegt es daran, dass die unerfüllte Liebeeinen davon träumen lässt, wie eine solche vermeintlich ideale Beziehung beschaffen sein könnte, indem man sie aus den Erfahrungen zusammensetzt, die man selbst gemacht oder bei anderen beobachtet hat. Diese perfekte Liebescollage, die nicht in der Realität getestet werden kann, wird also zu etwas viel Faszinierenderem als die tatsächlichen Möglichkeiten. Zeki zufolge sind unglückliche Liebesgeschichten – von Tristan und Isolde bis zu Romeo und Julia – deshalb seit Jahrtausenden so beliebt: weil sie letztlich bloß ein Ausdruck dafür sind, wie unser Gehirn gepolt ist.
Zeki erforscht die Funktionsweise des Gehirns nicht nur, indem er neurologische Prozesse untersucht, sondern er berücksichtigt außerdem wiederkehrende kulturelle Themen als kollektives Gedankenprodukt unserer Spezies. Es geht dabei natürlich nicht nur um Liebe. Überall um uns herum sehen wir, wie die Menschen ständig darum bemüht sind, in der realen Welt die perfekte Vorstellung umzusetzen, die sie von ihrem eigenen Leben haben. Das erklärt, warum wir scheinbar so zufrieden damit sind, uns unter Hochdruck in die Zukunft befördern zu lassen, denn es suggeriert uns, dass wir in der Zukunft glücklich sein und für unser heutiges Leiden entschädigt werden. Morgen bekommen wir das, was wir uns wünschen, wenn wir uns heute hinsetzen und etwas Vernünftiges und Planvolles tun – ob es eine mehrjährige Ausbildung ist, um Karriere zu machen, eine Hypothek aufzunehmen, um ein Haus zu kaufen, für die Familiengründung oder für die Rente zu sparen und so weiter, bis wir am Ende sterben, und an diesem Punkt hilft uns das religiöse Konzept vom ewigen Leben weiter. Wir alle planen für das Morgen und vernachlässigen dabei das Heute, und das hindert uns daran, im Augenblick zu leben und zu akzeptieren, dass die Welt um uns herum unvollkommen ist.
Denn wenn das Morgen endlichda ist, so Zeki, hat sich das, was wir wollen, aufgrund unserer Lebenserfahrungen verändert. Und damit sind wir wieder beim Gegensatz zwischen der linearen, vorhersehbaren, eingeteilten Zeit des Chronos und der ewigen Gegenwart des Kairos.
Ein heftiger Wind fegte über den Sund von Mull, während die Fähre durch das tiefe Wasser tuckerte. Der Vollmond war aufgegangen, als wir uns der Insel näherten, und wir entdeckten bald etwas,
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