Small World (German Edition)
Himbeeraroma.«
Rosemarie lachte mit. »Vielleicht solltest du zum Arzt.«
»Glaubst du, es ist so ernst?«
»Nur sicherheitshalber.«
Hinter ihnen rasselte ein Pferdeschlitten. Sie traten an den Wegrand und ließen ihn vorbei. Zwei kleine, alte Gesichter unter riesigen Pelzmützen guckten aus den Lammfelldecken.
Sie gingen weiter im warmen Geruch der Pferde. Als das Bimmeln verklungen war, sagte Konrad: »Es war schön, daß ich mal mit jemandem so offen reden konnte. Mit Rosemarie kann ich das nie.«
Rosemarie blieb stehen. »Aber ich bin doch Rosemarie.«
Für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie, er würde die Fassung verlieren. Dann grinste er. »Reingefallen!«
Der Entschluß, einen Arzt aufzusuchen, gab Konrad Auftrieb. Als ob der Vorsatz, seinen Problemen auf den Grund zu gehen, auch zugleich deren Lösung darstellte. Sein Gedächtnis spielte ihm keine Streiche mehr. Nie hatte Rosemarie das Gefühl, er verwechsle sie.
Sie verbrachten einen harmonischen, sentimentalen Weihnachtsabend mit Christbaum und Wunderkerzen und Mitternachtsmesse. Und ein gepflegtes Silvester mit viel Oscietre und keinem Champagner und einer halben Stunde am offenen Fenster bei fernem Glockengeläut.
Voller Zuversicht begannen sie das neue Jahr.
Am Morgen des Dreikönigstages stand Konrad Lang um vier Uhr leise auf, schlich aus dem Schlafzimmer, zog über jeden Fuß zwei Socken und über den Pyjama einen Regenmantel. Er setzte sich Rosemaries Pelzkappe auf und öffnete die schwere Haustür, trat in die sternklare Winternacht hinaus und ging rasch über die Hauptstraße in Richtung Dorfausgang. Dort nahm er eine Abzweigung, überquerte vorsichtig die Bahntrasse und schritt tüchtig aus in Richtung Stazerwald.
Es war eine kalte Nacht, und Konrad war froh, daß er in seiner Manteltasche ein paar schweinslederne Handschuhe fand. Er zog sie an, ohne sein Tempo zu verlangsamen. Wenn er so weiterging, würde er in einer Stunde dort sein. Das war früh genug. Er könnte es sich sogar leisten, aufgehalten zu werden. Er war extra beizeiten aufgestanden.
Der Wald war tief verschneit, hohe Schneewände säumten den Weg und schluckten jedes Geräusch, er hätte nicht einmal die weichen Schuhe anzuziehen brauchen.
Ab und zu kam er an freigeschaufelten Ruhebänken vorbei. Neben jedem stand ein Papierkorb, auf dem ein schwarzes Strichmännchen auf gelbem Grund etwas in einen Strich-Papierkorb warf. Aber Konrad fiel nicht darauf herein. Er warf nichts hinein.
Alles lief nach Plan, bis er zu einer Stelle kam, wo sich der Weg teilte. Dort stand ein Wegweiser mit zwei gelben Schildern. Auf dem einen stand: »Pontresina 1/2 Std.«, auf dem andern: »St. Moritz 1 1/4 Std.« Damit hatte er nicht gerechnet.
Er blieb stehen und versuchte den Trick zu durchschauen. Er brauchte lange, bis er dahinterkam: Man wollte ihn auf eine falsche Fährte locken. Das brachte ihn zum Lachen. Er stand da, schüttelte den Kopf und lachte immer wieder auf. Ihn auf eine falsche Fährte locken!
Als Rosemarie erwachte, war es noch stockdunkel. Sie spürte, daß etwas nicht stimmte. Konrads Platz im Bett war leer.
»Konrad?«
Sie stand auf, machte Licht, schlüpfte in den Morgenrock und ging hinaus.
»Konrad?«
Im Vestibül brannte Licht. Konrads Kamelhaarmantel hing an der Garderobe, seine Schneestiefel standen auf dem Abtropfblech daneben. Er mußte also im Haus sein.
Die Windfangtür war zu, aber als sie daran vorbeiging, spürte sie einen kalten Luftzug. Sie öffnete sie. Eisige Nachtluft schlug ihr entgegen. Die Haustür stand sperrangelweit offen.
Sie ging zurück, schlüpfte in ihre Lammfellstiefel und zog sich den gefütterten Lodenmantel über. Die Stelle, wo ihre Pelzkappe hätte sein müssen, war leer.
Sie trat vor die Tür.
»Konrad?«
Dann etwas lauter: »Konrad!«
Alles blieb still. Sie ging vors Haus bis zum Gartentor. Es stand offen. Die Dorfstraße lag still vor ihr. Die Häuser waren dunkel.
Die Uhr der Dorfkirche schlug fünf.
Rosemarie ging ins Haus zurück, öffnete die Tür zu jedem Zimmer und rief Konrads Namen.
Dann ging sie zum Telefon und wählte den Notruf der Polizei.
Hercli Caprez war schon lange Polizist im Oberengadin. Er war es gewohnt, daß wohlsituierte Herren in den besten Jahren nachts abhanden kamen. Aber er wußte natürlich auch, daß er solche Fälle sehr ernst zu nehmen hatte; in der Saison befanden sich hier lauter Leute mit Einfluß an Stellen, die ihm das Leben schwermachen konnten. Sein junger Kollege
Weitere Kostenlose Bücher