Small World (German Edition)
neues Papier. Darauf waren zwei Fünfecke gezeichnet. Das eine steckte in der Seite des andern. »Zeichnen Sie das bitte ab.«
Konrad brauchte lange für diese letzte Aufgabe. Aber zum Schluß fand er, daß sie ihm nicht schlecht gelungen war.
Dr. Wirth dagegen gab ihm dafür eine Null.
Konrad Lang erreichte achtzehn von möglichen dreißig Punkten bei diesem Test. Das war ein katastrophales Ergebnis. Selbst wenn ihm Dr. Wirth zugute hielt, daß die Fragen nach Ort und Zeit in Anbetracht der Umstände schwer zu beantworten waren, selbst wenn er einräumte, daß er die Befragung aus persönlichen Gründen nicht absolut fair geführt hatte, würde der Patient nicht die sechsundzwanzig Punkte erreichen, die ein gesunder Mensch im schlechtesten Fall erreichen müßte.
Der Arzt empfahl Rosemarie Haug dringend, Konrad Lang für weitere Untersuchungen in die Universitätsklinik einzuweisen.
»Wenn es dich beruhigt«, sagte Konrad, als Rosemarie ihm diesen Vorschlag unterbreitete.
Drei Tage später lag Konrad Lang in einem Einzelzimmer der Universitätsklinik. Daß es sich um die geriatrische Abteilung handelte, fiel ihm nicht auf.
Aufgrund der Laboruntersuchungen von Blut und Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit konnten Infektionskrankheiten des Hirns ausgeschlossen werden.
Die Elektroenzephalographie ergab keine Hinweise auf andere Ursachen für eine Demenz.
Messungen der Hirndurchblutung schlossen arteriosklerotische Durchblutungsstörungen aus.
Die Ermittlung der Sauerstoff- und Glukoseverwertung im Hirnstoffwechsel deutete auf verminderte Stoffwechselaktivitäten bestimmter Gehirnzonen hin.
Zwei Wochen nachdem er von einem Veltliner Pferdekutscher mit erfrorenen Zehen in einer Schneehöhle im Stazerwald gefunden worden war, lag Konrad Lang in einem Spitalhemd auf einer mit Kunststoff bezogenen Liege und fror.
Eine Assistentin legte eine Decke über ihn und schob die Liege in die kreisrunde Öffnung des Computertomographen. Der Zylinder begann sich zu drehen. Langsam, schneller, immer schneller.
Konrad Lang lag wieder in einer blauen Höhle. Alles um ihn herum versank.
Ganz weit weg sagte eine Stimme: »Herr Lang?«
Und noch einmal: »Herr Lang?«
Ein Herr Lang wurde gesucht.
Eine Hand legte sich leicht auf seine Stirn. Er schlug sie weg und setzte sich auf. Als er von der Liege klettern wollte, merkte er, daß seine Füße verbunden waren.
»Ich will hier weg«, sagte er zu Rosemarie, als sie sein Zimmer betrat. »Hier schneiden sie dir Zehen ab.«
Sie dachte, er wolle einen Witz machen, und lächelte. Aber Konrad schlug die Decke zurück. Er hatte die Verbände abgenommen und zeigte triumphierend auf die kaum verheilten Narben an seinen Füßen.
»Gestern waren es zwei«, sagte er, »heute bereits drei.«
Am gleichen Tag wurde Konrad Lang aus dem Universitätsspital entlassen. Die klinischen Untersuchungen hatten die meisten anderen Ursachen ausgeschlossen.
Auf Drängen von Rosemarie hatte Dr. Wirth eingewilligt, die psychologischen Tests ambulant durchzuführen.
Was Schöller zu berichten hatte, überraschte Elvira Senn. »In der Geriatrie?« fragte sie noch einmal.
»Sie untersuchen dort sein Gehirn. Er leidet unter Gedächtnisstörungen. Demenz.«
»Demenz? Mit wieviel? Knapp fünfundsechzig?«
»Er hat eben ein bißchen nachgeholfen.« Schöller kippte ein unsichtbares Glas.
»Kann man etwas dagegen tun?«
»Wenn es zum Beispiel Alzheimer ist, nicht.«
»Damit rechnet man?«
»Muß man wohl. Über die Hälfte von denen, die dort untersucht werden, haben Alzheimer.«
Elvira Senn schüttelte nachdenklich den Kopf. »Halten Sie mich auf dem laufenden.« Damit wandte sie sich anderen Traktanden zu.
Als Schöller ihr Arbeitszimmer verlassen hatte, stand sie auf und ging ans Büchergestell, auf dem ein paar Erinnerungsfotos standen. Eines zeigte sie als junges Mädchen mit Wilhelm Koch, dem Firmengründer, einem älteren steifen Herrn. Auf dem andern war sie am Arm von Edgar Senn, ihrem zweiten Mann, zu sehen. Zwischen ihnen stand Thomas Koch im Alter von etwa zehn Jahren.
Elvira nahm ein Fotoalbum aus dem Regal und blätterte darin. Bei einem Foto, das sie mit Thomas und Konrad als kleine Buben auf dem Markusplatz zeigte, verweilte sie einen Augenblick. Noch vor kurzer Zeit hatte Konrad sie mit seinen plötzlichen genauen Erinnerungen an die Zeit in Venedig erschreckt. War es möglich, daß ein gütiges Schicksal jetzt damit begonnen hatte, diese ein für allemal auszulöschen?
Sie
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