Small World (German Edition)
besaß zwar noch nicht diese Abgeklärtheit, aber genügend Respekt, um das Maul nur dann aufzumachen, wenn er gefragt wurde.
Caprez gab sofort vor Rosemaries Augen in sachlichem Ton telefonisch eine Beschreibung von Konrad Lang durch. »Nach den bisherigen Erkenntnissen trägt der Vermißte einen Regenmantel und einen Pyjama, keine Schuhe und eine Nutria-Damenmütze.«
Der Polizist am anderen Ende lachte. »Der dürfte eigentlich nicht allzuschwer zu finden sein.« Caprez antwortete mit einem diskreten »Danke«.
Er legte auf, schaute Rosemarie in die Augen und sagte: »Die Fahndung läuft, Frau Haug.«
Fausto Bertini fuhr den Pferdeschlitten Nummer eins im ersten Morgengrauen zur Werkstatt des Fuhrbetriebes, für den er in der Wintersaison arbeitete. Der Eisenbeschlag einer Kufe war abgerissen und mußte repariert sein, bevor es losging. Es war Hochsaison. Jeder Schlitten wurde gebraucht.
Alle paar Meter schlingerte und ruckte das beschädigte Gefährt und brachte die Stute aus dem Tritt und Bertini zum Fluchen.
An der Abzweigung nach Pontresina blieb das Tier vollends stehen.
»Hü!« rief Bertini, »hü!« Und als das nichts half: »Porca miseria!« Und: »Vaffanculo!«
Die Stute rührte sich nicht. Gerade als Bertini die Peitsche aus der Halterung nehmen wollte, wo er sie meistens stecken hatte – er war trotz seiner Ausdrucksweise ein sanfter Kutscher –, sah er ein Stück Fell, das sich im Schnee vor dem Wegweiser bewegte. Die Stute scheute. »Hoo, hoo«, machte Bertini. Als sie sich beruhigt hatte, stieg er vorsichtig vom Bock und ging leise auf das Pelztier zu.
Es war kein Tier, es war eine Pelzmütze. Sie saß auf dem Kopf eines älteren Herrn, der aus einem Loch im tiefen Schnee ragte.
»Ich glaube, meine Füße sind erfroren«, sagte er.
Konrad Langs Füße waren nicht erfroren. Aber zwei Zehen des linken und einer des rechten Fußes mußten amputiert werden. Abgesehen davon war er erstaunlich heil geblieben. Daß er sich in den Schnee eingegraben hatte, habe ihm das Leben gerettet, meinten die Ärzte.
Er konnte sich an nichts erinnern bis zum Moment, als er das Bimmeln des Pferdeschlittens gehört hatte. Als ihn Bertini auf den Schlitten gepackt hatte, redete er wirres Zeug. Im Spital in Samedan, kurz nach der Einlieferung, verlor er dann zweimal das Bewußtsein. Aber jetzt schien ihn der Vorfall weniger zu belasten als Rosemarie. Sein Hauptproblem war: Raus aus dem Spital.
Da Rosemarie Haug weder Verwandte noch Ehefrau war, hatte sie keine Rechte in bezug auf Konrad; zum Glück verfügte sie über gute Beziehungen zur Spitalleitung und bat den Chefarzt, Konrad erst zu entlassen, nachdem er von einem Neurologen untersucht worden war.
Zwei Tage später landete Dr. Felix Wirth in Samedan.
Felix Wirth war einer der wenigen aus dem Freundeskreis ihrer zweiten Ehe, mit denen Rosemarie noch Kontakt hatte. Er hatte mit ihrem Mann studiert, und sie hatten sich nicht aus den Augen verloren, obwohl sich beide auf sehr unterschiedliche Gebiete, ihr Mann auf Chirurgie, Felix Wirth auf Neurologie, spezialisiert hatten.
Bei ihrer unschönen Kampfscheidung schlug sich Felix überraschend auf ihre Seite und sagte sogar vor Gericht gegen ihren Mann aus.
Felix Wirth war immer da, wenn sie ihn brauchte. Daß sie ihn nicht schon früher um Rat gefragt hatte, konnte sie sich nur damit erklären, daß sie, wie Konrad, die Augen vor der Wirklichkeit verschloß. Er hatte sofort eingewilligt, Konrad Lang zu untersuchen, ohne diesem gegenüber zu erwähnen, daß er das auf Veranlassung von Rosemarie tat.
Sie holte ihn vom Flugplatz ab. Während der ganzen Taxifahrt zum Spital stellte Dr. Wirth Rosemarie Fragen. Kann er sich allein rasieren? Nimmt er Anteil daran, was um ihn herum geschieht? Kann er kleine Besorgungen allein machen? Setzt er eine Unterhaltung richtig fort, wenn sie unterbrochen wurde?
»Er ist nicht senil. Er hat einfach diese Blackouts, von denen ich dir am Telefon erzählt habe.«
»Entschuldige, ich muß diese Fragen stellen.«
Sie schwiegen, bis das Taxi vor dem Spital hielt. Als Dr. Wirth ausstieg, sagte Rosemarie: »Ich habe Angst, es ist Alzheimer.«
Dr. Wirth drückte sie an sich.
»Sie sind Hirnspezialist?« fragte Konrad Lang, als Dr. Wirth seine Befragung zur Anamnese abgeschlossen hatte.
»So kann man es nennen.«
»Und Sie sind ans Arztgeheimnis gebunden?«
»Natürlich.«
»Was ich Ihnen jetzt sage, fällt darunter: Ich möchte niemanden beunruhigen, aber ich
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