Small World (German Edition)
»St. Pierre« kannten.
Ranjah war ganz anders als die laute, resolute, herzliche Schwester Irma Catiric, die ihn mit ihrer Mütterlichkeit etwas einschüchterte. Ranjah war sanft und zurückhaltend und besaß die unbefangene Zärtlichkeit, mit der die Menschen aus Sri Lanka ihre Alten und Kranken umgeben.
Konrad Lang respektierte Schwester Irma. Aber Schwester Ranjah liebte er. Wenn sie ihre freie Nacht hatte und Jacques Schneider, der späte Medizinstudent, sie vertrat, fehlte ihm etwas. Auch wenn er nicht sagen konnte, was.
Der Umzug von Konrad Lang ins Gästehaus der »Villa Rhododendron« schien auch für Rosemarie Haug eine glückliche Entscheidung gewesen zu sein.
In den zwei Wochen, die es gedauert hatte, bis das Gästehaus bezugsbereit war, besuchte sie ihn noch ein paarmal im »Sonnengarten«. Nie gab er ihr auch nur das kleinste Zeichen des Erkennens.
Als sie nach ihrem letzten Besuch im Lift nach unten fuhr, wurde sie auf einmal überwältigt von der ungeheuren Erleichterung darüber, daß sie jetzt nie mehr diesen durchdringenden Geruch riechen mußte.
Ihr schlechtes Gewissen verflog vollends, als Felix Wirth ihr erzählte, wie gut Konrad Lang die Veränderung getan habe, wie zufrieden er wirke und wie wunderbar aufgehoben und versorgt er sei.
Am Ende der ersten Woche nach dem Umzug machte sie in Absprache mit Simone Koch und in Begleitung von Felix Wirth einen Besuch bei Konrad. Die Atmosphäre von Effizienz und Gemütlichkeit, die im Gästehaus herrschte, gefiel ihr.
Vor dem Wohnzimmer hörte sie Konrad lachen (wann hatte sie ihn das letzte Mal lachen gehört?), und als die Schwester sie hineinführte, saß er mit einer jungen Frau am Tisch vor dem Fenster und malte. Er hörte zu lachen auf, sah sie irritiert an und fragte: »Ja, bitte?«
»Ich bin’s, Rosemarie«, sagte sie, »wollte nur sehen, wie es dir geht.«
Konrad blickte die junge Frau an, zuckte die Achseln und malte weiter. Rosemarie blieb einen Moment unschlüssig stehen. Als sie wieder draußen war, hörte sie erneut sein unbeschwertes Lachen.
Sie fühlte sich von einer Last befreit, von der sie nie gewußt hatte, daß sie sie erdrückte.
Noch am selben Abend schlief sie zum ersten Mal mit Felix Wirth. Ohne daß Konrad Lang es merkte, verschwand Rosemarie Haug aus seinem Leben.
Auch Simone Koch lebte auf. Nicht, weil sie, wie Elvira meinte, jetzt eine Aufgabe hatte, sondern weil sie sich zum ersten Mal, seit sie Mitglied der Familie Koch war, behauptet hatte. Und zwar nicht in einer Lappalie wie der Wahl der Farbe der Vorhänge im Lesezimmer oder des Menüs beim Dreikönigsessen. Sie hatte in einer grundsätzlichen, heiklen Frage ihren persönlichen und vom Familienkonsens abweichenden Standpunkt durchgesetzt.
Damit hatte sie mehr bewirkt, als sie sich hätte träumen lassen. Der Aufstand der von der Familie Belächelten und Verstoßenen hatte nicht nur Konrad geholfen, er hatte auch ihrem Ansehen in der Familie und beim Personal genützt. Alle, selbst Urs, behandelten sie mit mehr Respekt.
Konrad Lang wurde der wohlbehütetste Alzheimerpatient, den man sich vorstellen konnte. Ständig war er umgeben von professionellem Pflegepersonal, und doch wurde alles getan, damit seine Umgebung den privaten Charakter behielt und er sich geborgen und wie zu Hause fühlte.
Jeden Vormittag kam der Physiotherapeut, arbeitete mit ihm an seiner Koordination und Beweglichkeit und hielt seinen Kreislauf in Schwung.
Jeden Nachmittag kam die Beschäftigungstherapeutin, die mit ihm leichte Denk- und Erinnerungsaufgaben löste. Er malte für sie artig Aquarelle und sang nachsichtig Lieder mit ihr, die sie unbeholfen auf dem Klavier begleitete. Ab und zu tat er ihr sogar den Gefallen, selber etwas auf den Tasten zu klimpern.
Seine Diät war ausgewogen und reich an Vitamin A, C und E, um die zellschädigenden Atome zu entschärfen. Seine Hirndurchblutung wurde mit Ginkgo-Extrakten gefördert. Sein Vitamin-B 4 - und -B 12 -Spiegel wurde überwacht und, wenn nötig, ausgeglichen.
Seine Tage waren ausgefüllt und geregelt, niemand hörte weg, wenn er zum wiederholten Mal die gleiche Geschichte erzählte. Man gab ihm das Gefühl, daß man ihn gern hatte. Das fiel niemandem im Gästehaus schwer. Konrad Lang war ein liebenswerter Mann.
Am vorletzten Sonntag vor Weihnachten stand Konrad schon in Mantel und Pelzmütze im Windfang, als Simone kam.
»Seit einer Stunde will Herr Lang raus. Sonst komme er zu spät zum Schneien«, erklärte Schwester
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