Small World (German Edition)
aß mit Appetit, machte der Diätköchin Komplimente auf italienisch, schlief ohne Schlafmittel, rasierte sich selbst und kleidete sich ohne fremde Hilfe an, wenn auch etwas extravagant.
Er nahm das Häuschen in Beschlag, als ob er immer darin gewohnt hätte, und machte schon am zweiten Tag Verbesserungsvorschläge: Er hätte lieber Musik als das. Mit »das« meinte er den Fernseher, der in der Bücherwand stand.
»Was für Musik?« fragte Simone.
Er schaute sie erstaunt an. »Klavier, natürlich.«
Simone kaufte noch am gleichen Tag eine Anlage und alles, was ihr an Klaviermusik in die Finger kam. Als sie am Abend die erste CD spielte, sagte er: »Hast du sie nicht mit Horowitz?«
»Was?« fragte Simone.
»Die Nocturne Opus 15, Nummer 2, Fis-Dur«, antwortete er nachsichtig. »Das hier ist Schmalfuss.«
Auch Dr. Wirth bestätigte Simone Koch nach seinem ersten Besuch, daß es Konrad Lang bessergehe. Er weise längere Phasen der Präsenz auf, seine Konzentrationsfähigkeit sei verbessert und dadurch seine Kommunikationsfähigkeit und seine Fähigkeit, komplexe Handlungsabläufe wie Aufstehen – Rasieren – Ankleiden zu bewältigen.
»Aber machen Sie sich keine großen Hoffnungen«, fügte er hinzu, »solche Schwankungen mit vorübergehender spontaner Besserung gehören zum Krankheitsbild.« Daß dem oft eine sprunghafte Verschlechterung folgte, verschwieg er.
Aber Simone machte sich Hoffnungen, schon allein deshalb, weil niemand mit letzter Sicherheit beweisen konnte, daß Konrad Lang tatsächlich an Alzheimer erkrankt war. Das mußte selbst Dr. Wirth zugeben.
Am liebsten ging Konrad im Park spazieren. Für Simone war das nicht ganz einfach, weil es zur Abmachung gehörte, daß sie ihn von der Familie fernhielt. Thomas und Urs mußten dazu außer Haus sein, und wenn das nicht der Fall war, hatte sie Konrad, der sie, schon zum Ausgehen gekleidet, erwartete, klarzumachen, warum es jetzt nicht möglich war.
Elvira war insofern ein kleineres Problem, als das »Stöckli«, in dem sie sich meistens aufhielt, Konrad überhaupt nicht interessierte. Er betrachtete es als etwas, das nicht in den Park gehörte, und machte einen Bogen darum.
Nicht so die Villa. Jedesmal machte er sie nach kurzer Zeit zum Ausgangspunkt und Ziel ihrer Spaziergänge. »Es wird kühl, gehen wir rein«, sagte er, wenn sie sich in ihrer Nähe befanden. Oder: »Wir sollten zurück, Tomi wartet.«
Meistens gelang es Simone, ihn mit dem Gärtnerschuppen abzulenken. Das war sein Lieblingsort. Er kannte jedesmal die Stelle über dem Türstock, wo der Gärtner den Schlüssel versteckte. Wenn er die Tür öffnete, sagte er immer geheimnisvoll: »Jetzt mußt du riechen.«
Sie atmeten beide den Duft aus Torf, Dünger und Blumenzwiebeln ein, der den Schuppen ausfüllte. Dann mußte sich Simone neben Konrad auf einen Haraß setzen. Nach ein paar Sekunden versank er tief in einer anderen – seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen glücklicheren – Zeit.
Wenn sie es dann nach einer Weile über sich brachte, ihn wieder in ihre Gegenwart zu locken, ließ er sich widerstrebend zurück ins Gästehaus führen. Doch sobald er das Wohnzimmer betrat, schien er sich ganz zu Hause zu fühlen. Er setzte sich in einen Sessel und wartete, bis Simone Musik machte. Dann schloß er die Augen und lauschte.
Nach einer Weile ging Simone leise hinaus. Sie hätte gern gewußt, ob ihm auffiel, daß sie nicht mehr da war, wenn er die Augen wieder öffnete.
Wenn die Musik verstummte und Konrad die Augen öffnete, war meistens Schwester Ranjah da.
Im Pflegeheim hatte das Abendessen noch zu den Aufgaben der Tagesschwestern gehört. Schon um halb sechs, wie die kleinen Kinder, mußten die Patienten essen oder wurden sie gefüttert. Aber hier im Gästehaus waren auch die Essenszeiten menschenwürdig. Zwischen sieben und halb acht trug Luciana Dotti das Abendessen auf, und es fiel der Nachtschwester zu, Konrad dabei Gesellschaft zu leisten oder ihm, je nach Verfassung, zu assistieren.
Schwester Ranjah begrüßte Konrad immer auf Hindu-Art mit einer kleinen Verbeugung und unter dem Kinn zusammengelegten Händen. Immer grüßte Konrad so zurück. Sie sprachen Englisch miteinander, und ihr Akzent versetzte ihn nach Sri Lanka, als die Insel noch Ceylon hieß und das Gelände, auf dem das Galle Face Hotel stand, ein Golfplatz war.
Er war in den Fünfzigerjahren mit Thomas Koch einmal dorthin gereist auf Einladung des britischen Gouverneurs, dessen Sohn sie aus dem
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