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Small World (German Edition)

Small World (German Edition)

Titel: Small World (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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hatte damit begonnen, leitende Mitarbeiter der Koch-Werke als besondere Auszeichnung am ersten Advent zum Abendessen einzuladen. Mit dem Gedeihen der Werke wuchs auch die Zahl der leitenden Mitarbeiter, und so wurden mit den Jahren alle Adventssonntage zu Direktionsessen.
    An diesem Abend waren es Vertreter der Unternehmensleitung der Bereiche Textil und Energie, eine etwas gewagte Mischung aus jüngeren modischen Managern (Textil) und älteren, biederen Direktoren (Energie), alle jeweils mit ihren Gattinnen. Achtundzwanzig Personen saßen um den großen Tisch im Speisezimmer, Elvira, Simone, Thomas und Urs mitgerechnet.
    Der erste Gang wurde gerade aufgetragen, als Simone in einer dringenden Sache vom Tisch gerufen wurde. Urs stand kurz vom Stuhl auf, als sie sich entschuldigte. Alle Herren taten es ihm gleich.
    Draußen in der Halle wartete die Aushilfsnachtschwester.
    »Herr Lang ist verschwunden.«
    »Verschwunden? Wie konnte das passieren?« fragte Simone, während sie in einen Mantel schlüpfte und zur Tür eilte.
    Sophie Berger rannte ihr nach. »Im Haus ist er nicht«, rief sie, als Simone zum Gästehaus eilen wollte. »Ich habe überall nachgesehen.«
    Simone änderte die Richtung. Wortlos gingen die beiden Frauen durch den Park, von dessen Bäumen der nasse Schnee tropfte.
    An einigen Stellen vor dem Gärtnerschuppen lag noch Schnee, und man konnte im Mondlicht Fußspuren sehen, die darauf zuführten. Die Tür war unverschlossen. Simone öffnete sie. »Konrad?«
    Keine Antwort. Ein Viereck Mondlicht fiel durch die offene Tür. Die Harassen, auf denen sie immer saßen, standen da, der Torf, die Blumenzwiebeln, die Düngersäcke. Aber Konrad war nicht hier. Als sie schon gehen wollte, sah sie etwas am Boden. Sie hob es auf. Es war Konrads Hausschuh. Als sie genauer hinschaute, fand sie auch den anderen. Und daneben seine Socken.
    »Frau Koch«, rief Sophie Berger, »schauen Sie.«
    Simone ging hinaus. Die Schwester zeigte auf den Abdruck zweier nackter Füße im zusammengefallenen Schnee. Am rechten fehlte eine Zehe, am linken fehlten zwei.
    »Ich glaube, wir warten nicht auf meine Frau«, sagte Urs Koch mit kaum verhohlenem Ärger zu Trentini, der bei größeren Anlässen in der Villa für den Service zuständig war.
    »Hoffentlich keine ernsten Probleme«, sagte Frau Gubler, die mütterliche Frau des Delegierten ›Turbinen‹.
    »So ein großes Haus ist wie ein Ozeandampfer, immer braucht es irgendwo den ersten Offizier«, ergänzte ihr Mann.
    »Schönes Bild«, nickte Thomas Koch.
    Elvira Senn nahm sich vor, mit Simone über ein paar Grundregeln für Gastgeberinnen zu sprechen.
    Das Personal begann mit dem Service des zweiten Ganges, als es an die Scheibe der Verandatür klopfte.
    Thomas warf Trentini einen Blick zu. Dieser ging zur Tür, schob den Vorhang etwas beiseite und spähte hinaus. Dann ging er zu Thomas Koch und flüsterte ihm etwas zu.
    Während die beiden noch berieten, was zu tun sei, begann sich am Vorhang eine Tür abzuzeichnen, die sich nach innen öffnete. Etwas bewegte sich hinter dem Vorhang. Plötzlich teilte er sich.
    Auf trat Konrad Lang. Klatschnaß und verdreckt, die Hosenbeine über den nackten Füßen hochgekrempelt. Er schaute sich in der sprachlosen Runde um und ging auf Elvira Senn zu.
    Vor ihrem Stuhl blieb er stehen und flüsterte: »Mama Vira, Mama Anna soll weggehen. Bitte!«
    Thomas Koch gab am meisten zu denken, wie Elvira reagiert hatte. Er saß zu ihrer Linken und war außer ihr der einzige, der verstanden hatte, was Konrad sagte. Sie war schneeweiß geworden, und er mußte sie ins »Stöckli« begleiten, wo sie sich sofort aufs Sofa des Salons legte und die Augen schloß. Er breitete eine Decke über sie. »Soll ich Dr. Stäubli rufen?«
    Sie gab keine Antwort.
    »Wo ist seine Nummer?«
    »Im Arbeitszimmer auf dem Pult.«
    Als Thomas zurückkam, war er etwas gereizt. »Seine Frau sagt, er sei schon zu Koni gerufen worden. Ich habe ihn im Gästehaus erreicht und ihn über die Prioritäten ins Bild gesetzt.«
    Während sie auf den Arzt warteten, fragte Thomas: »Was hat dich so erschreckt?«
    Elvira schwieg.
    »Mama Vira, Mama Anna soll weggehen?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Das hat er doch gesagt?«
    »Das habe ich nicht gehört.«
    Es läutete. Thomas Koch stand auf und ließ Dr. Stäubli herein.
    Schwächeanfälle bei Diabetikern sind oft Anzeichen dafür, daß sich deren Stoffwechsellage verändert hat. Nachdem Dr. Stäubli Elviras Blutdruck und Puls gemessen

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