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Smaragdjungfer

Smaragdjungfer

Titel: Smaragdjungfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mara Laue
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zu wenig leistet, auch mal Schwächen zuzulassen. Sie wissen doch, wie das mit der Eiche, dem Bambusrohr und dem Sturm ist. Die Eiche trotzt dem Sturm, stemmt sich ihm entgegen mit aller Kraft, aber weil der Sturm stärker ist und die Eiche vor lauter Stärke nicht nachgeben kann, wird sie umgeblasen. Das Bambusrohr dagegen beugt sich dem Sturm. Obwohl es bis zum Boden niedergedrückt wird, bricht es nicht, weil es dem Sturm keinen Widerstand entgegensetzt, sondern sich ihm anpasst. Und wenn der Sturm vorüber ist, richtet es sich wieder auf und ist so stark und unversehrt wie zuvor.« Keller beugte sich vor. »Widerstand ist anstrengend. Nachgeben ist manchmal kluge Taktik, keine Schwäche.« Er lächelte leicht. »Einen Moment. Ich glaube, ich habe da noch irgendwo …«
    Er ging zu seiner Kramkiste, aus der Paula sich vor Monaten den roten Stein ausgesucht hatte. Er wühlte eine Weile darin herum und kehrte mit einem kleinen Gegenstand zurück, den er ihr reichte: ein fingerlanges, fingerdickes Stückchen Bambusrohr.
    »Stark und biegsam zugleich, ohne sich in seiner Form dauerhaft verbiegen zu lassen. Was wollen Sie wirklich sein, Frau Rauwolf? Die Eiche oder der Bambus?«
    Paula starrte das Bambusstück an. So wie Keller das sagte, klang es so einfach. Sie war ihr Leben lang die Eiche gewesen, unbeugsam und stolz, um nicht zu sagen stur. Und nun der Bambus? Sich dem Sturm anpassen und am Ende doch ungebeugt aufrecht stehen? Siegen ohne zu kämpfen? Sie sah Keller an und traf ihre Entscheidung.
    »Das mit der Klinik ist okay. Aber erst, wenn der Fall abgeschlossen ist.«
    Keller nickte. »Wenn es Ihnen recht ist, machen wir Folgendes. Sie ruhen sich übers Wochenende aus bis erst mal Montag. Dann sehen wir, wie es Ihnen geht. Wenn Sie sich stabil genug fühlen, können Sie wieder an die Arbeit. Und sobald Sie Ihren Fall abgeschlossen haben, machen wir noch mal für ein paar Wochen eine stationäre Therapie. Wenn Sie wollen, können wir morgen einen weiteren Gesprächstermin einschieben.«
    »Okay.«
    Keller konsultierte seinen Terminkalender. »Ich habe dieses Wochenende ohnehin Dienst und bin ab acht Uhr hier. Nach der Morgenbesprechung hätte ich Zeit für Sie. Ist Ihnen elf Uhr recht?«
    Paula nickte. »Danke.«
    »Haben Sie noch was von dem Beruhigungsmittel, das ich Ihnen verschrieben habe?«
    »Ja. Ich bin sparsam damit umgegangen.«
    Er lächelte. »Etwas anderes hätte mich auch gewundert. Nehmen Sie es wieder regelmäßig. Zumindest für die nächste Zeit.«
    Paula nickte erneut und verabschiedete sich. Sie fühlte sich immer noch grauenvoll. Aber sie würde durchhalten. Und bis dahin versuchen, ein Bambus zu sein.
    Sie fuhr zum Südstrand und bis ans Ende der Schleusenstraße, wo das militärische Sperrgelände begann. Hinter dem Schleusendeich setzte sie sich auf die Mauer am Ende der Nordmole und ließ die Beine über dem Wasser baumeln. Der kühle Wind zerzauste ihre Haare und wehte einen feinen Geruch nach Tang heran. Die Ebbe hatte gerade begonnen.
    Sie kam immer hierher, wenn sie allein sein wollte. Hier war in der Regel niemand. Und die Leute, die ein Stück weiter ihre Hunde frei laufen ließen – obwohl oben am Deich ein unübersehbares Schild stand, das gebot, Hunde anzuleinen –, ließen sie in Ruhe. Gerade jetzt hätte sie nicht ertragen, wenn jemand sie angesprochen hätte. Lukas Rambachers Tod hatte sie wie ein Sturm wieder einmal zu Boden gedrückt. Aber er würde vorübergehen. Und Paula würde sich wieder aufrichten und weitermachen. Sie hielt in der Hand das Bambusstück, während sie beobachtete, wie das Wasser sich langsam vom Land zurückzog. Biegen, nicht brechen.
    Als sie fast drei Stunden später zu ihrem Wagen zurückkehrte, war sie völlig durchgefroren. Trotzdem fühlte sie sich etwas besser und verspürte sogar Hunger. Wie immer, wenn sie von einer »Grübel-Session« auf der Molenmauer zurückkam, kehrte sie im An Bord an der Nassaubrücke ein, das an ihrem Weg lag. Normalerweise trank sie entweder nur ein Bier oder aß was Ordentliches. Heute gönnte sich den hausgemachten Labskaus mit einem kühlen Jever.
    Danach fühlte sie sich in der Lage, wenigstens bis zu ihrem morgigen Termin bei Dr. Keller in diesem verdammten, beschissenen Leben durchzuhalten.

    Maja Küster stieg die Treppe im Haus Bismarckstraße 197 hinauf, gefolgt von ihrem Team. Die Spuren des Mordes an Lukas Rambacher in Jasmin Stojanovics Wohnung waren gesichert. Als Nächstes waren die auf dem

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