SMS für dich
stark gegen die großen Fensterscheiben und auf das Flachdach, dass das gesamte Loft
von einem wundersamen Klang erfüllt ist.
Sein Konterfei spiegelt sich in der Scheibe, und Sven betrachtet eine ganze Weile sein Gesicht. Es sieht müde aus. Aber ihm
gefallen die Stoppeln, denen er seit ein paar Tagen gewährt zu wachsen und die aus ihm einen reiferen Mann zu machen scheinen.
Plötzlich setzt er sich auf. Wenn Lilime sich bis Sonntagabend nicht meldet, drehe ich den Spieß tatsächlich um und rufe sie
einfach an, beschließt er. Dann grinst er sein Spiegelbild an.
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Clara
Nach einem langen Spaziergang durch den Wilschenbruch sitzt Clara nun auf der Bank am Fluss und blickt erschöpft aufs Wasser.
In der Hand hält sie einen orangefarbenen Umschlag. Vor ihr fließt die Ilmenau |143| in ruhigen Bahnen. Von hier aus strömt sie weiter durch das bunte Treiben in der mittelalterlichen Innenstadt von Lüneburg
und mündet schließlich in die Elbe.
Noch vor wenigen Wochen, als Clara mit Dorothea am Hamburger Hafen auf das gräuliche Nass starrte, lag Bens Tod völlig im
Dunkeln. Erst heute scheint sie endlich eine beruhigende und zugleich quälende Klarheit zu bekommen – Klarheit darüber, dass
Ben sich wahrscheinlich mit Absicht vom Balkon gestürzt hat.
Ähnlich wie in der Zeit zwischen der Todesnachricht und der Beerdigung funktionierte Clara in den vergangenen Tagen nur noch
mechanisch. Die anfängliche Euphorie, die sie aufgrund ihrer Karrierepläne als Malerin empfunden hat, war sofort erloschen,
als sie in dem Karton mit den Musikutensilien die dicke Mappe entdeckt hatte. Vorn auf der Pappe stand in großen Buchstaben
«Privat» und darunter der Satz «Bitte NICHT lesen!».
Zunächst zögerte Clara, die Mappe zu öffnen, um nachzusehen, ob die Geheimhaltung bloß einer Kleine-Jungen-Idee geschuldet
war oder ob Ben tatsächlich deutlich machen wollte, dass die Dinge darin nur ihn selbst etwas angingen. Und sie fragte sich,
ob sie oder Bens Familie ein natürliches Recht hätten, Informationen aus seinem Innenleben zu erhalten.
Doch noch am selben Abend gab sie sich einen Ruck, öffnete mit zittrigen Händen den Verschluss und breitete den Inhalt auf
ihrem Bett aus. Zum Vorschein kamen tagebuchähnliche Aufzeichnungen, ein paar Fotos und Liedtexte von Ben sowie alte Briefe
und Postkarten. Noch während sie die Fundstücke kurz durchblätterte, begriff Clara, um was für eine Art von Dokumenten es
sich handelte. |144| Anhand der Daten sah sie, dass dies Zeugnisse mehrerer Jahre waren. Schlagartig wurde ihr klar, dass sie dieses «Testament»
nicht würde ignorieren können. Auf der anderen Seite aber war sie nicht imstande, Bens Bitte, die Sachen nicht zu lesen, zu
übergehen und ihm damit in den Rücken zu fallen. Wäre bei Ben das Wahren seiner Wünsche nicht viel wesentlicher als alles
andere?
Vor allem aber hatte Clara große Angst davor, etwas zu erfahren, was sie erschüttern könnte. Kurz überlegte sie, ob nicht
vielleicht Katja oder Dorothea …? Doch sie fühlte, dass es nicht richtig war.
In jener Nacht wälzte sich Clara stundenlang im Bett herum. Und erst in den frühen Morgenstunden entschied sie, das Beste
sei, wenn sie die Mappe einer Person anvertrauen würde, die Ben nicht gekannt hat. Es müsste jemand sein, der gewissenhaft
bei der Lektüre vorgehen würde und einschätzen könnte, ob die Aufzeichnungen für Bens Hinterbliebene eine wirkliche Hilfe
sein könnten. So würde sie seinem Willen zumindest in Ansätzen entsprechen.
Und auf einmal lag die Lösung dieses Problems ganz nah. Gleich am Morgen rief Clara ihre Therapeutin an, um zu fragen, ob
sie sich bereit erklären würde, die Mappe nach Anhaltspunkten durchzusehen. Frau Ferdinand bat sich freundlich, aber bestimmt
einen Tag Bedenkzeit aus, rief aber doch noch am selben Nachmittag zurück, um zu bestätigen, dass auch sie Claras Einfall
sinnvoll und gut fände.
Nachdem Clara die Mappe in der Praxis abgegeben hatte, war sie zunächst erleichtert, dass die Schriftstücke nicht mehr in
ihrer Wohnung herumgeisterten. Doch auch die darauf folgende Nacht schlief sie ebenso unruhig. Clara konnte es kaum erwarten,
was Frau Ferdinand sagen würde, |145| obwohl sie tatsächlich große Angst hatte vor dem, was sie womöglich erfahren würde. Wieder und wieder spekulierte sie, was
die Aufzeichnungen wohl über Bens Zustand und sein Seelenleben verraten
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