SMS für dich
könnten.
Gleich am nächsten Morgen bekam Clara dann einen Anruf von Frau Ferdinand mit der Bitte, ihre Praxis aufzusuchen. Clara gab
Antje Bescheid, dass sie etwas später zur Arbeit kommen würde, und machte sich auf den Weg.
Mit zittrigen Knien betrat sie das Sprechzimmer von Frau Ferdinand, das ihr sonst immer warm und geborgen vorgekommen war.
Frau Ferdinand bot Clara wie bei jeder ihrer Sitzungen einen Tee an und bat sie, sich zu setzen. In ihrer Hand hielt sie einen
orangefarbenen, unbeschrifteten Umschlag, der Clara bereits beim ersten Durchsehen von Bens Mappe Auge gefallen war.
Frau Ferdinand legte den Brief auf den kleinen, flachen Tisch zwischen ihnen und sagte mit einem sanften Lächeln: «Dieser
Brief ist für Sie. Ihr Freund hat ihn zwar vor über einem Jahr geschrieben. Aber er enthält vielleicht einige Antworten auf
Ihre Fragen.»
Clara stockte der Atem. Sie wusste nicht, was sie fühlen, denken oder gar sagen sollte.
«Es ist ein Abschiedsbrief», fuhr Frau Ferdinand fort. «Und auch wenn Ben Ihnen den nicht direkt hinterlassen hat, so denke
ich doch, dass Sie ihn lesen sollten.»
«Da steht also drin, dass er sich umbringen wollte?», fragte Clara mit belegter Stimme.
«Nicht direkt. Aber ich denke, wir können jetzt davon ausgehen, dass er dieses Leben nicht wollte. Auch viele andere Hinweise
finden sich in seinen Aufzeichnungen, die darauf hindeuten, was ich bereits vermutet habe. Ganz |146| gleich, ob es letzten Endes ein Unfall aufgrund hohen Drogenkonsums war oder ob er sich bewusst hinuntergestürzt hat. Ihr
Freund suchte offenbar vergeblich nach Wegen, seine dunkle Seite mit seiner strahlenden in Einklang bringen zu können.»
Clara schluckte. Sie spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen.
«Frau Sommerfeld, ich empfehle Ihnen, diesen Brief an sich zu nehmen und alle anderen Dokumente seiner Familie zu übergeben,
damit diese selbst entscheiden kann, was sie damit tun möchte. Sie müssen dafür nicht allein die Verantwortung tragen!»
***
Auch jetzt auf der Bank hallen diese Worte in Claras Kopf noch nach. Wie gebannt starrt sie auf das Wasser. Sie muss wieder
und wieder an den grässlichen Streit denken, den sie mit Ben geführt hat, in der Nacht, in der sie ihn zum letzten Mal lebend
sah. Wie sie ihm die Fähigkeit absprach, Verantwortung übernehmen zu können, und vorwarf, sein Leben nicht im Griff zu haben.
Auch wenn sie jedes ihrer Worte zutiefst bereut, hätte ihn eine stumme Kritik früher oder später vermutlich ebenso weit von
ihr entfernt. Gegen die Macht seiner dunklen Welt war sie einfach zu schwach.
Noch immer hält sie Bens Abschiedsbrief in Händen. Aus einem Impuls heraus beschließt sie nun, ihn endlich zu öffnen.
Mit zitternden Fingern holt sie einen handgeschriebenen weißen Bogen aus dem Umschlag und beginnt zu lesen:
|147|
Liebe Clara!
Wenn du das hier liest, bin ich nicht mehr da, und es tut mir leid, dass ich zu feige bin, um dir die Wahrheit einfach ins
Gesicht zu sagen.
Die Wahrheit ist, dass ich, seit ich 15 bin, an nichts anderes denke als an meinen nächsten Trip. Ich hangele mich von einem
zum anderen, und dazwischen ist dieses Fiepen, das ich nicht mehr ertragen kann.
Ich will dich nicht weiter hineinziehen in mein verkorkstes Leben. Und du sollst nicht mehr Achtung haben vor mir als ich.
Ich hasse mich. Ich hasse mich für alles und vor allem dafür, dass ich dich nicht so lieben kann, wie du es verdienst.
Geh deinen Weg. Meiner ist am Ende.
Mach es gut, hörst du!
Ben
Clara weint. Sie weint ohne ein Schluchzen, sondern lautlos und sehr lange. Schließlich atmet sie mehrere Male tief ein und
aus. Dann schaut sie kurz in den wolkenverhangenen Himmel und faltet den Brief zu einem kleinen Papierschiffchen.
Sie weiß, sie wird Bens Worte im Herzen bewahren. Doch sie möchte das Papier loswerden, denn zweifellos bekundet es, wie wenig
sie den Mann gekannt hat, den sie heiraten wollte, und wie brüchig das Fundament eigentlich gewesen sein muss, auf dem ihre
Liebe gründete.
Clara geht ein paar Schritte hinab ans Ufer, nimmt ihren Ring vom Finger, küsst ihn sanft und legt ihn an die Spitze des kleinen
Schiffchens. Behutsam setzt sie das Papier aufs |148| Wasser. Zunächst droht es, sich zur Seite zu neigen und unterzugehen. Doch nach einer kleinen Drehung hebt das Wasser es vorwärts.
In kurzen, heftigen Bewegungen findet es schließlich seinen Weg flussabwärts.
Mit glasigen Augen
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