Snow Angel
gestellt. Es reichte ihr vollkommen aus, sich seiner körperlichen Präsenz sicher sein zu können. So sehr Simon sie auch nur als ansehnliche Staffage neben sich empfunden hat, als schlicht „vorhandene“ Möglichkeit, die wieder aufkeimenden sexuellen Bedürfnisse befriedigen zu können, so wenig hatte sie ihm an Oberflächlichkeit nachgestanden.
Er kann sich nicht erinnern, dass sie sich jemals gegenseitig tiefe Gefühle eingestanden hätten. Es hat keine Zukunftspläne gegeben, keine Liebesschwüre, keine Momente, in denen er sie vermisst hätte, wenn sie ein paar Tage lang nicht da war. Kein Sehnen, keine große Wiedersehensfreude. Sie waren nicht einmal auf die Idee gekommen, zusammenzuziehen. Beide wollten unabhängig bleiben, nie den Alltag des anderen teilen. Der Sex war okay gewesen. Technisch einwandfrei. Er hatte den Körper befriedigt. Die Seele hatte er kalt gelassen.
Bei diesen Überlegungen entsteht Ninas Bild vor seinem geistigen Auge und Simon bemerkt ein seltsames Ziehen in der Leistengegend. Wie lange ist es her, dass er dieses eindeutige Verlangen zum letzten Mal gespürt hat? Es ist ein Verlangen, das geradezu körperlichen Entzugserscheinungen gleicht. Und ist es wirklich nur ein Gefühl rein körperlichen Entbehrens?
Nein, die Frage kann er sich problemlos sofort beantworten. Dazu gehört nicht das, was er just als „verblödetes Grinsen“ an sich bemerkt, und dazu gehört nicht der Griff an die Brust und diese elende Sehnsucht, die ihm ihr zauberhaftes Bild gerade beschert.
Simon denkt an die Zeit mit Laura zurück. Wie ist es da gewesen vor ihrem Verschwinden? Eine absolute, wortlose, manchmal wortreiche Übereinstimmung hatte zwischen ihnen bestanden. Sie hatten schlecht ohne einander gekonnt, hatten sich schon vermisst, wenn sie nur kurz getrennt gewesen waren. Die Jahre hatten sie zusammengeschweißt, einig gemacht im Denken, Fühlen und Handeln. Einig gemacht in den Plänen für die Zukunft. Bis auf den einen Punkt. Schmerzhaft erinnert er sich an die immer wieder geführten Diskussionen über seine Wünsche, mit ihr Kinder haben zu wollen. Zuerst hatte sie immer nur abgewiegelt, das Thema gewechselt, wenn die Rede darauf kam. Später hatte sie ihre Weigerung mit einer ganzen Reihe gut und vernünftig klingender Argumente zu stützen begonnen. Und irgendwann war sie einmal völlig ausgerastet. Er sollte sie damit endlich in Ruhe lassen. Seither hatte Simon das Thema vorsichtshalber nicht mehr angeschnitten und diesen Wunsch unter der Rubrik „Man kann eben nicht alles haben!“ in seinem Herzen vergraben.
Was würde wohl Nina zu diesem Thema sagen?
Er weiß es nicht und wird sich dessen sehr bewusst, dass er eigentlich gar nichts von ihr weiß.
Das ganze Scheißgefühl, das er gerade hat, beruht auf nichts, als … ja, worauf eigentlich?
Chemie? Hormone? Pure romantische Stimmung, die in der eingeschneiten Hütte quasi unvermeidbar war?
Wäre Nina ihm in einer Menschenmenge überhaupt aufgefallen? Hätte er sich über eine kleine, süße Abiturientin auch nur ansatzweise Gedanken gemacht, wenn sie ihm in einer Kneipe über den Weg gelaufen wäre? Vielleicht ist diese Frage ja vollkommen irrelevant, überlegt er. Denn sie ist ihm weder in einer Kneipe noch sonstwo über den Weg gelaufen. Und hätte Ben nicht das Bedürfnis nach einem Abendspaziergang gehabt, hätte es keinen Grund gegeben, bei dem Sauwetter überhaupt die Hütte zu verlassen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie dann in dieser Nacht am Hang erfroren wäre.
SOLLTE das einfach so sein? Ist es das, was man Schicksal nennt, dem man sich nicht entziehen kann? Und heißt es nicht auch, man müsse sein Schicksal „annehmen“? Hat es dann überhaupt Sinn, sich darüber Gedanken zu machen, was Laura ihm nun an dieser Stelle raten würde?
Ein Leben als Eremit wäre es ganz sicher nicht gewesen. Dafür war sie viel zu lebensbejahend.
Es gelingt Simon nicht mehr, sich ein eindeutiges Bild von ihr vorzustellen. Wieder und wieder schiebt sich Ninas Gesicht dazwischen, mischt sich erst mit Lauras, bleibt dann im Vordergrund.
Es ist zu eindeutig, dass die Realität ihn eingeholt hat, als dass er sich noch länger verschließen könnte. Simon fasst einen Entschluss. Er wird sie suchen, wird sie finden und alles tun, um sie wirklich kennenzulernen. Und er wird sich trauen, ihr sein Herz zu öffnen und der Zukunft eine Chance geben.
Huberts Handy klingelt, bis der Anrufbeantworter
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