Snow Angel
betritt.
„Fertig zur Mittagspause! Wir haben eine ganze Stunde“, sagt sie strahlend.
„Wo wollen wir hin? Zu Giuseppe?“
„Der beste Vorschlag ever“, stimmt Jenny begeistert zu. „Da kann ich mir zum Mittagessen gleich eine kleine 'Quattro Staggione' gönnen. WENN wir einen Platz ergattern. Beim einzigen Italiener, der den Winter nicht im sonnigen Süden verbringt, ist es mittags ja immer proppenvoll.“
„Lass mich mal machen“, beschwichtigt Nina, „er mag mich, in irgendein Eckchen wird er uns schon noch quetschen können.“
„Bei der Ausstrahlung, die du momentan hast, wird dir vermutlich sowieso niemand etwas abschlagen können. Und schon gar nicht der Sizilianer“, stimmt Jenny zu. Sie hakt Nina unter, die ihr die von Nadine so dramatisch aufgeblasene Unfallstory in schillernden Farben erzählt und gut gelaunt stürzen sich die beiden ins städtische Getümmel.
Tatsächlich ist die Pizzeria brechend voll. Das Gesicht des schwer beschäftigten Wirts erhellt sich aber sofort, als er die beiden Freundinnen zur Tür hereinkommen sieht. „Ciao, bella Signorina Nina, ciao, Signora Jenny!“, strahlt er, kommt hinter seiner Theke hervor und begrüßt sie überschwänglich. Die ganz persönliche Pflege seiner Gäste liegt ihm sehr am Herzen. Jeder, der hier hereinkommt, soll so gastfreundlich empfangen werden, als gehöre er zur Familie, die selbstverständlich in Küche und Service voll eingespannt ist. „La Mamma“ hat die Oberherrschaft in der Küche. Seine Frau Francesca, Schwester Lucia und ihr Mann sind im Wechsel mit ihren beiden Töchtern für den Service zuständig und „Papa“ kümmert sich um Buchhaltung und Einkäufe.
Antonio, Giuseppes Sohn, ist in Ninas Jahrgang und wird nur zu Hochdruckzeiten im ausgeklügelten System des Familienbetriebes eingesetzt. Seine Eltern setzen große Hoffnungen in ihn und sind stolz auf „Wichtigstes überhaupt“: Bildung.
Für die Weiblichkeit hat Giuseppe ein besonderes Faible. Zumal für hübsche junge Vertreterinnen des Geschlechts. Über Nina hat er vorhin, als die ersten Abiturienten zum Capuccino eingeflogen waren, allerdings eine entsetzliche Horrorgeschichte gehört. Zu ihrem Erstaunen macht er eine sehr erleichtert wirkende Bemerkung, sie so wohlbehalten sehen zu können.
Nina hat er speziell ins Herz geschlossen, seit sie einmal ganz unkompliziert eingesprungen ist, als ihm plötzlich der Schwager wegen einer schlimmen Grippe ausgefallen war. Es hatte ihr Spaß gemacht, sich in dem quirligen Getümmel des Restaurants für einen Abend als Bedienung nützlich zu machen. Seither hat sie bei ihm einen Stein im Brett.
So macht er dann auch „pronto“ einen kleinen Tisch frei, indem er charmant und geschickt abräumt, natürlich ebenso „pronto“ die Rechnung reicht, kassiert und überaus höflich Mäntel und Jacken der Gäste bereithält. Sie können gar nicht anders als zu gehen. Allerdings mit dem zufriedenen Gefühl, besonders zuvorkommend verabschiedet worden zu sein. Sie werden wiederkommen. Ganz sicher! Und versuchen sich sogar mit einem wenig italienisch klingenden „ciao“ beim Hinausgehen.
Als Giuseppe ihre Bestellung aufnimmt, möchte er von Nina wissen, wie es ihr denn nun genau gelungen ist, sechsunddreißig Stunden bei der Eiseskälte in der Schlucht überlebt zu haben. Er habe gar nicht gewusst, dass es schon wieder Wölfe in der Gegend gäbe und sei voller Bewunderung, dass sie sich gegen das angreifende Rudel zur Wehr setzen konnte.
Nina und Jenny liegen beinahe vor Lachen unterm Tisch.
„Gerüchte, Signorinas, Gerüchte!“, ruft er in einer Mischung aus Erleichterung und Empören aus. „Ich bin hier die Nachrichtenzentrale. Und ständig binden mir die Leute Bären auf. Immerzu muss ich filtern. Was ist wahr und was erfunden?“, schimpft er. „Dann wüsste ich natürlich auch gerne, was an dem Gerücht mit dem Wilderer dran ist, den mein guter Freund Simon gefangen haben soll!“
Nina zuckt bei der Nennung des Namens zusammen. Ein so entlarvendes Strahlen geht über ihr Gesicht, dass der Italiener aufmerkt. „Signorina Nina, was weißt du denn davon?“
„Wovon? Von dem eingefangenen Wilderer oder von deinem Freund Simon?“, fragt Nina mit einem kecken Augenaufschlag.
Giuseppe kann auf ihre Frage nicht mehr eingehen, denn ein Gast ruft ihn. Er dreht sich nur noch sehr langsam um, wirft Nina einen vielsagenden Blick zu und singt leise grinsend, aber genau so gut
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