So berauschend wie die Liebe
würde mich überhaupt gar nicht erst an dich binden! Und ich verachte deinen Bruder nicht, weil er das Seil durchschnitten hat, sondern weil mir der Beweis vorliegt, dass er Antonio hätte retten können und sich dagegen entschied.“
Lucy sog scharf die Luft ein. „Das ist ein schrecklicher Vorwurf. Ich glaube dir nicht! Vielleicht suchst du ja nur wegen deines eigenen schlechten Gewissens nach einem Sündenbock. Nach allem, was ich von Antonio weiß, hast du dich nur wenig um ihn gekümmert und den größten Teil der Zeit in Amerika in Gesellschaft ständig wechselnder Frauen verbracht.“
„Das genügt! Ich werde dir meinen Verdacht beweisen, damit das ein für allemal geklärt ist.“ Er eilte mit ausladenden Schritten zum Haus zurück und zog Lucy einfach hinter sich her.
Ohne auf die neugierigen Blicke der dienstbaren Geister zu achten, die ihnen in der Eingangshalle begegneten, ging Lorenzo zielstrebig mit Lucy an der Hand zum Arbeitszimmer, das sich im rückwärtigen Teil des Hauses befand.
„Setz dich!“, befahl er ihr dort und drückte sie auf ein antikes schwarzes Ledersofa. Dann zog er eine Schublade des massiven Schreibtisches auf, nahm etwas heraus und kehrte damit zu Lucy zurück. „Du brauchst einen Beweis dafür, was für ein mieser Kerl dein Bruder war?“ Er warf eine Handvoll Fotos auf den niedrigen Couchtisch vor ihr. „Diese Bilder wurden an dem Tag des sogenannten Unfalls aufgenommen, bei dem Antonio ums Leben kam. Sieh sie dir an!“
Er breitete sie vor Lucy aus und deutete als Erstes auf ein Foto von Antonio und Damien, lachend und mit leuchtend roten Jacken bekleidet. Lucy betrachtete es durch einen Tränenschleier. Die beiden sahen so jung, glücklich und lebendig aus … und jetzt waren sie tot.
„Das sind die beiden, als sie in dem Basiscamp ankommen, um sich dort für den Aufstieg am nächsten Morgen vorzubereiten. Beachte, dass auf allen Fotos das Datum und die Uhrzeit vermerkt sind.“
Lucy begriff nicht, was das sollte. Datum und Uhrzeit des Unfalls waren ihr unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt. Dennoch betrachtete sie die Aufnahmen ganz genau. Drei weitere allgemeine Ansichten von dem Camp vom selben Tag, alle innerhalb einer Stunde gemacht. Nur ein Foto, eine Landschaftsaufnahme, stammte vom darauffolgenden Tag um zwei Uhr nachmittags.
„Schön, die beiden sehen glücklich aus.“ Ärgerlich wischte sie sich die Tränen fort. „Was genau soll ich denn anhand der Bilder erkennen?“
„Die winzige, rot gekleidete Gestalt in der Landschaftsaufnahme, das ist dein Bruder. Ich habe diese Fotos von einem Freund, Manuel Cervantes, der ein erstklassiger Bergsteiger ist. Damien und Antonio besaßen vielleicht nicht ganz sein Niveau, waren aber auch sehr gute und erfahrene Alpinisten, wie du weißt. Nach Manuels Angaben hätte jeder einigermaßen versierte Kletterer es von dem Punkt, an dem dein Bruder sich um zwei Uhr nachmittags befand, in drei, allerhöchstens vier Stunden bis zum Basiscamp geschafft. Es war aber bereits dunkel, als Damien die Rettungsmannschaft verständigte. Sieben Stunden, nachdem dieses Foto dort aufgenommen wurde! Zu spät, um an dem Tag noch mit der Suche beginnen zu können. Selbst ein unerfahrener Neuling hätte schneller absteigen können. Er hat Antonio sterben lassen.“
Lucy sah ihn an. Ein schmerzlicher Ausdruck huschte über sein Gesicht, bevor Lorenzo sich wieder in der Gewalt hatte und ihren Blick kühl und herausfordernd erwiderte.
Sollte sie sich überhaupt die Mühe machen, ihre Seite vorzutragen? Sie kannte Lorenzo inzwischen ganz gut. Wenn er sich eine Meinung gebildet hatte, ließ er sich durch nichts davon abbringen. Lorenzo hielt sie für eine leichtlebige Frau, seit sie zum ersten Mal mit ihm geschlafen hatte, nur aufgrund der Tatsache, dass sie ihn nicht zurückgewiesen hatte … Genauso sah er sich ein paar Fotos an und kam zu dem Schluss, dass ihr Bruder ein Mörder war, auch wenn er das Wort nicht benutzt hatte … „Du glaubst das wirklich, nicht wahr?“, fragte sie ruhig.
„Ja, der Beweis liegt doch vor dir. Antonio ist tot. Ich habe meinen Bruder verloren, und Damien hat meiner Mutter ihren Sohn geraubt und ihr Leben zerstört.“
Lucy sah ihn fassungslos an. War nicht auch sie verzweifelt über Antonios Tod gewesen? Und Anna war immerhin noch Lorenzo geblieben, ihr Leben war wohl kaum sinnlos geworden. Lucy war es leid, der Bösewicht zu sein.
„Es hat meinem Dasein auch nicht gerade gutgetan, sonst würde
Weitere Kostenlose Bücher