So bin ich eben - Erinnerungen einer Unbezaehmbaren
ich mich für das Lied entschieden habe, singe ich es in der Klavierbegleitung meines Mitstreiters Henri Patterson beim Gesangswettbewerb in Deauville. Charles Aznavour gewinnt den Preis für den besten Liedtext und ich, als Zugabe, den Interpretenpreis, den Édith Piaf gestiftet hat.
Das Chanson ist ein Skandal, das Publikum schätzt es sehr. Édith Piaf wird es später auch in ihr Repertoire aufnehmen. Ob sie ihre erste Ablehnung bereut hat?
Damals hat man Charles, und besonders mich, arg beschimpft. Aber was soll man dagegen tun? Man muss immer auf seinen Instinkt vertrauen. Seltsamerweise hatte Édith Piafs Instinkt sie im Stich gelassen.
Léo
Léo Ferré war sowohl als Mensch wie als Dichter außergewöhnlich.
Anfang der Sechzigerjahre ruft er mich eines Tages an und teilt mir in seinem Befehlston mit: »Ich möchte dich sehen. Ich wohne Boulevard Gouvion-Saint-Cyr.« Tag, Stunde und genaue Adresse schickt er schnell hinterher, mir bleibt gerade noch die Zeit, um zu sagen: »Einverstanden.«
Das kleine, absonderliche Haus, in dem er wohnt, betritt man durch einen engen, finsteren Gang, an dessen Ende ich zwei offen stehende Türen entdecke. In dem Zimmer hinter der ersten Tür brennt ein schwaches Licht, eine Art Nachtlicht, wie man es für Kinder anzündet, damit sie in Ruhe schlafen können. Ich erkenne zwei Betten. Auf jedem schläft ein großer weißer, wunderschöner Hund. Das ist sehr seltsam und poetisch.
Durch die andere Tür kommt man in einen winzigen Salon, in dem ein riesiger Flügel mit einer Beethoven-Büste oben drauf steht. Léo sitzt an dem Piano und spielt Chansons, die unbekannt geblieben sind; dennoch sind sie schön. Poesie pur.
Plötzlich kommt ein kleiner Schimpanse in einem Matrosenkostüm angerast. Léo redet mit ihm wie mit einem Kind. Dann wendet er sich wieder mir zu: »Ich habe gerade ein Chanson geschrieben, du wirst sehen!«
Ich sperre die Augen auf und bin ganz Ohr. Léo spielt für mich das Lied »Jolie môme« …
Ich verliebe mich in das Lied, er bietet es mir an. Ein flottes, lustiges Chanson, allerdings extrem frauenfeindlich. Das behaupten zumindest die, die es sich oft genug angehört haben. Egal, es ist ein schönes Lied, und ich singe es.
Zudem ist es ein sehr sinnliches Chanson, es prickelt vor Erotik.
Léo Ferré schlägt mir auch »Paris canaille« vor, das bereits Catherine Sauvage auf ihre unverkennbare Art singt. Dieses wunderbare Lied wurde anfangs im Radio nicht gespielt, weil Ferré es gewagt hatte, die Begriffe »canaille«, Halunke, und »racaille«, Gesindel, mit den Mächtigen dieser Welt in Verbindung zu bringen. Auch dieses Chanson nehme ich in mein Repertoire auf. Ich singe es heute noch gern. Wenn ich es bei einer Tournee auslasse, bekomme ich es mit meinen Fans zu tun.
Ja, die Zensur. Das erinnert mich an den November 1951, als man einige Zeilen des Lieds »À la belle étoile« von Jacques Prévert und Joseph Kosma verboten hat:
Il était pâle comme l’ivoire
Et perdait tout son sang
Tire-toi d’ici, tire-toi d’ici
Voilà ce qu’il m’a dit
Les flics viennent de passer
Histoire de s’échauffer
Ils m’ont assaisonné.
Er war bleich wie Elfenbein,
Verlor sein ganzes Blut.
Hau ab von hier, hau ab von hier,
So redete er auf mich ein.
Die Bullen waren gerade bei mir
Die Fresse haben sie mir poliert,
Jetzt bin ich indigniert.
Dieses Verbot ist für mich kein Hindernis – im Gegenteil, es ermutigt mich, diese Zeilen 1952 im Bobino zu singen. Wie habe ich dieses Theater geliebt.
Hier wurde die Tradition des Varietés in seiner reinsten Form gepflegt. Zirkusartisten, Tänzer und Leute vom Kabarett traten zusammen in einem Programm auf. Ich sang 1951 zum ersten Mal hier, nach den Frères Jacques und Édith Piaf.
Zu dieser Zeit arbeitete ich fast wie eine Verrückte. Ich trat am selben Abend im Bobino, im Chez Carrère und eine Stunde später noch im Rose Rouge auf.
Léo Ferré hat auch das Chanson »Plus jamais« für mich geschrieben. Per Bildtelegraf schickte er es mir direkt auf die France . Für die Jungfernfahrt des Passagierschiffs hatte man mich zum Singen engagiert. Was ich auch tat, trotz eines Sturms, den ich nie vergessen werde.
Sein Lied »Avec le temps« werde ich erst sehr viel später singen. Seine eigene Interpretation ist nämlich unerreichbar. Aber das Lied ist zu schön, ich konnte es mir einfach nicht versagen. Doch ich brauchte Mut dazu.
Als ich es dann 2007 im Théâtre du Châtelet sang, war Léo
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