So bin ich eben - Erinnerungen einer Unbezaehmbaren
der Leinwand wartete er dann eineinhalb oder zwei Stunden, bis der Film zu Ende war. Dann war er wieder dran.
Als ich ihn zum ersten Mal hörte, hat mich das sehr berührt. Ich war fasziniert von seinem Gesang. Er war außergewöhnlich!
Einige Tage später ruft mich Jacques Canetti an. Der künstlerische Leiter von Philips, Bruder des Schriftstellers Elias Canetti und Entdecker vieler Talente, sagt zu mir: »Passen Sie auf, da gibt es einen Typen …«
»Ja, da haben Sie recht. Ich habe ihn vor ein paar Tagen im Gaumont gehört.«
»Wenn Sie wollen, schicke ich ihn vorbei.«
Und Jacques kam. Zunächst sah ich ihn im Gegenlicht, denn der Flur meiner Erdgeschosswohnung in der Rue de Berri war sehr dunkel. Ich erblickte also die Silhouette eines mageren Jungen mit sehr langen Armen. In einer Hand hielt er einen Gitarrenkasten.
Dann betrat er das Zimmer, in dem ich auf ihn wartete.
Er setzte sich auf einen Stuhl neben dem Klavier. Ich konnte meinen Blick nicht von ihm wenden. Er begann zu singen, und plötzlich war ich wie weggetreten. Er hat mir einige Lieder vorgesungen, die mich tief bewegten. Ich entschied mich für»Ça va (le diable)«. Ich sagte ihm, dass ich am Anfang meiner Karriere stünde und glaubte, gerade dieses Lied durchsetzen zu können. Alle anderen Lieder sollten bei ihm bleiben, er allein sollte sie singen.
Der Text von »Ça va (le diable)« ist eine Warnung. Da em pört sich jemand. Es ist ein Lied für alle, die heute ein unwürdiges Leben führen müssen. »Der Teufel hat gerade seine Inspektion auf der Erde beendet«,warder ursprüngliche Titel gewesen.
Ça va
Il y a toujours un peu partout
Des feux illuminant la terre
Ça va
Les hommes s’amusent comme des fous
Aux dangereux jeux de la guerre
Ça va.
Keine Sorge
Irgendwas stellen sie immer an
Ob sie nun Feuerchen legen
Keine Sorge
Oder das Kriegsspiel pflegen
Ein Heidenspaß für jedermann
Keine Sorge.
An diesem Tag sind Brel und ich Freunde geworden, Freunde fürs Leben.
Bei unserer nächsten Begegnung wohne ich schon in der Rue de Verneuil. Der Pianist und Komponist Gérard Jouannest begleitet ihn.
Es ist schon Mittag, aber derzeit gehe ich spät ins Bett und stehe spät auf. Die beiden sind gerade eingetroffen. Noch etwas verschlafen, quasi noch nicht unter den Lebendigen, ziehe ich mir ein weißes, hauchdünnes Negligé, das mit Spitzen besetzt ist, über und erscheine so im Salon. Meine Augen möchten eigentlich wieder zufallen. Jacques singt »On n’oublie rien« . Gérard begleitet ihn am Klavier. Eine Woche darauf singe ich es auf der Bühne. Das werde ich noch einige Jahrzehnte so halten.
Viel später werde ich auch »Ne me quitte pas« singen. Das mache ich immer noch. Dieses Lied hat eine eigene Geschichte. Es war der Wendepunkt in der Zusammenarbeit zwischen Gérard Jouannest und Jacques Brel.
Eines Tages spielte Jacques Gérard während einer Tournee eine Art mexikanischen Walzer vor, mit dem er aber seine Probleme hatte. Gérard schlägt für die Melodie ein anderes Tempo vor und komponiert eine Überleitung zwischen den Strophen.
Das ist der Beginn einer produktiven Zusammenarbeit. Gérard Jouannest wird mehr als vierzig Lieder für Jacques komponieren, und »Ne me quitte pas« wird nach einem zögerlichen Start einige Jahre später zu einem Riesenerfolg.
Ich mag das Lied sehr. Aber so, wie Jacques es singt, mag es mir bei aller Bewunderung für ihn nicht gefallen.
Da bittet ein Mann die Frau, die er liebt und die ihn abgewiesen hat, zu ihm zurückzukommen. Er schleppt sich zu ihr, ohne seine Selbstachtung zu verlieren. Ich singe das Lied wie eine Drohung: »Wag ja nicht, mich zu verlassen!« Es so zu singen – davon bin ich überzeugt –, ist die richtige Art. Für mich. Brel hätte wahrscheinlich nichts gegen meine Interpretation einzuwenden, denn er liebte meinen »fiesen« Charakter. Er wusste, dass jedes seiner Lieder, wenn ich es singe, zu einem Lied von mir wird. Ich bin – und daran ist nicht zu rütteln – nun mal eine Frau. Und das macht den »kleinen Unterschied« aus.
Wir sind all die Jahre Vertraute, Komplizen und Freunde geblieben. Dazu mussten wir uns nicht regelmäßig sehen. Er lebte auf den Marquesasinseln in Polynesien, und ich war immer viel unterwegs.
Ein sehr, sehr langes Gespräch mit ihm in Paris ist mir in Erinnerung geblieben. Das war 1964. Nach der Generalprobe im Olympia, bei der Jacques zum ersten Mal »Amsterdam« gesungen hatte, waren wir bei dem Musikproduzenten
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