So bitterkalt
fünfzehn oder zwanzig Meter breit ist. Vorne endet es an einer scharfen Kante, dahinter ist der Abgrund, an dessen Fuà sich die Granitblöcke stapeln.
Hier oben wachsen Gestrüpp und niedrige Büsche und eine einzelne Kiefer. Ihre Wurzeln haben sich mitten auf dem Felsen in eine erdgefüllte Senke eingegraben und so Halt gefunden. Doch ein umgestürzter Baum ist nicht zu sehen. Die Kiefer wächst gerade hoch, auch wenn ihre Nadeln nicht gerade gesund aussehen.
»Wo ist er?«, fragt Jan.
»Hier.« Rössel geht zu der Kiefer, und nun klingt seine Stimme völlig mechanisch: »Ich habe die Leiche hierher getragen und in die Grube unter den Wurzeln geworfen. Dann habe ich mich gegen den Stamm gestemmt und den Baum wieder aufgerichtet. Und damit war die Leiche verschwunden.«
Jan leuchtet mit dem Schutzengel.
»Der Baum stirbt.«
»Jetzt ja.«
Jan sagt nichts mehr, sondern beobachtet, wie Rössel in einiger Entfernung von der Kiefer die Spaten aus der Decke wickelt.
»Grab du da, dicht am Stamm.«
Jan betrachtet den unebenen Boden. Er denkt an Wurzeln und Geheimnisse und verschiedene Wahlmöglichkeiten.
Dann hebt er den Spaten, sticht ihn in die Erde und beginnt zu graben. Er hat viel Energie im Körper, und die braucht er auch, denn der Boden ist sehr hart.
Rössel hat den zweiten Spaten in der Hand, steht aber nur auf der anderen Seite des Baumes und schaut auf den Boden.
Jan arbeitet sich vorwärts. Neben dem Stamm der Kiefer türmt er einen Haufen Erde auf, während das Loch vor ihm allmählich immer tiefer wird.
Ab und zu nimmt er den Schutzengel heraus und leuchtet, kann aber nichts Besonderes erkennen.
»Grab weiter«, befiehlt Rössel, und Jan gräbt weiter.
Einige Wurzeln sind so dick, dass er sie nicht abhauen kann, also hebt er die Erde um die Wurzeln herum aus, um tiefer zu kommen.
Als er schlieÃlich eine Pause macht und auf die Uhr schaut, ist es schon Viertel vor eins. Seine Arme schmerzen, doch er hebt immer wieder den Spaten und gräbt weiter.
An einer Seite ragt eine kleine Wurzel aus der Erde, oder ist es vielleicht etwas anderes?
Ein vergilbter Knochen.
Jan hält inne und starrt in das Loch. Mithilfe des Schutzengels erkennt er noch mehr Knochen. Knochen und ausgefranste Stofffetzen.
Auch Rössel sieht, was er gefunden hat, und nickt. »Gut. Grab weiter.«
Jan zögert. »Dann würde ich ihn verletzen.«
»Das ist nur eine Leiche«, sagt Rössel.
Jan schweigt, beugt den Rücken und arbeitet weiter. So vorsichtig wie möglich hackt er die Erde um die Knochen herum frei, dabei tauchen immer mehr bleiche Teile auf. Allmählich formen sie sich zu einem ausgestreckten Skelett, dessen Bestandteile jedoch von den Wurzeln der Kiefer, die im Laufe der Jahre hineingewachsen sind, an vielen Stellen gebrochen sind.
Nach einer halben Stunde löst sich ein groÃer, grauer Stein aus der feuchten Grube und rollt in das Erdloch.
Nein, das ist kein Stein, erkennt Jan â das ist ein Schädel, an dem scheinbar noch, wie altes Papier, Hautfetzen kleben. Jan will gar nicht näher hinsehen.
Rössel klettert wortlos in die Grube und rafft alle losen Knochen zusammen. Er reicht sie einen nach dem anderen zu Jan hinauf, der sie vorsichtig auf die Decke legt. Auch der runde Schädel landet dort.
SchlieÃlich hat Rössel keine Knochen mehr zu übergeben.
»Fertig?«, fragt Jan.
»Das muss reichen«, antwortet Rössel und nimmt einen letzten Schluck aus der Flasche. »Jetzt müssen wir das hier nur noch zu Ende bringen.«
Er klettert aus dem Grab, stützt sich auf den Spaten und lächelt Jan an.
»Zu Ende bringen?«
Jan erhält keine Antwort auf seine Frage, denn plötzlich raschelt es im Gestrüpp hinter ihm.
Er hört Stiefel.
Rössel schaut in die Richtung, aus der das Geräusch kommt. »Herzlich willkommen«, sagt er.
»Hallo, Ivan«, antwortet eine gedämpfte Stimme aus der Dunkelheit.
Es ist eine Frauenstimme, die erschöpft und auÃer Atem klingt.
Jan wendet sich um, hebt den Schutzengel und sieht eine bekannte Gestalt den Abhang hochsteigen.
»Hallo, Jan.«
Hanna Aronsson kommt mit bedächtigen Schritten auf sie zu. Sie trägt etwas, das kann Jan jetzt erkennen, es ist ein kleiner willenloser Körper. Mit einer Augenbinde.
Ein Kind, das schläft oder betäubt ist.
Ein Junge.
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Fünfzehn
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